0573 - Der uralte Henker
waren tiefer gezogen. Sie endeten etwa einen Meter über dem Boden. Jenseits der relativ schmalen Scheiben zeichnete sich die Kulisse der Dolomiten ab.
Drüber stand der Himmel wie eine bepinselte Fläche. Auch wenn die Sonne schien, ins Innere des Klosters brachte sie keinerlei Wärme.
»Stell dich so, daß ich dich sehen kann!« befahl der Henker.
Ich veränderte meine Richtung, ging nach rechts. So konnten wir uns beide anschauen.
In der Furchenlandschaft zwischen seinen eisgrauen Haaren veränderte sich nichts. Überhaupt war diese Horror-Gestalt ein Wesen, das mir eher einen künstlichen Eindruck machte. War er ein Zombie?
Im Prinzip schon, auch wenn er keine Ähnlichkeit mit den Gestalten aufwies, die hin und wieder aus den Gräbern kamen und sich auf die Suche nach Menschen begaben.
Zum erstenmal konnte ich auch seinen Hals sehen. Er ragte aus dem Ausschnitt seines Gewandes hervor. Wie ein breiter, brauner, mächtiger Stempel wirkte der Hals, doch er hatte einen Fehler, der ihn von anderen Unterschied. Er war durchlöchert.
Ein sehr ungewöhnliches Zeichen. Ich dachte darüber nach, ob es mit seiner Existenz in einem unmittelbaren Zusammenhang stand.
Er lächelte nicht, er schaute mich an und nahm auch nicht das Schwert zur Seite. Der Mönch ertrug die Schmerzen mit einer wahren Engelsgeduld.
»Du hast ein Kreuz!« sagte er. »Nimm es weg!«
»Weshalb?«
»Steck es ein!«
Nur einstecken, dachte ich? Da mußte etwas dahinterstecken. Das hatte ich noch nie erlebt. Normalerweise waren Dämonen daran interessiert, daß ich meine stärkste und kostbarste Waffe aus ihrer Nähe schaffte und wegwarf.
Hier sollte ich es nur einstecken. Um so besser. Ich nickte und streifte dabei die Kette über den Kopf. Einen Herzschlag später war das Kreuz in meiner Jackentasche verschwunden.
»Noch etwas?«
Lorenzo hielt sein Wort, denn er nahm das Schwert zurück. Blutflecken klebten auf der Klinge. Er legte sie wieder auf den Tisch. Ich erkannte, daß ich mich nicht geirrt hatte. Von seinen Händen war die Haut tatsächlich abgefallen und hatte nur das nackte Gerippe zurückgelassen.
»Du bist nicht vermodert!« stellte ich fest.
»Nein!«
»Was ist der Grund? Du bist uralt. Wer hat dich am Leben erhalten, Henker?«
»Der Satan!«
Die Antwort überraschte mich. »Der Satan?« wiederholte ich und dachte dabei an den Spuk.
»Er wollte mich für die Ewigkeit erhalten!« klärte mich Lorenzo mit dumpfer Stimme auf. »Es gelang ihm nicht. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich will, daß du in diesem Kloster bleibst, denn ich werde dich bald holen kommen.«
»Glaubst du, daß ich mitgehe?«
Er nickte. Es sah schwerfällig aus, wie er seinen alten Schädel bewegte und die schlohweißen Haare dabei wie ein Schleier nach vorn fielen. »Ja, du wirst mitgehen, denn es wird dir einfach nichts anderes übrigbleiben.«
»Vielleicht bin ich auch gekommen, um dich zu vernichten, Henker. Wir könnten es jetzt und hier austragen.«
»Das will ich nicht.«
»Was dann?«
Er stand auf und zog sein Schwert mit. Die Klinge schleifte über den Tisch. Der Stuhl mit der hohen Lehne rutschte zurück. Der verletzte Mönch hatte seine rechte Hand erhoben. Zwischen den Fingern schimmerte ein weißes Tuch, das er gegen die Wunde preßte.
»Ich gehe«, sagte der Henker, »aber ich kehre zurück. Warte hier auf mich. Wenn ich dich nicht finden sollte, werde ich die Mönche der Reihe nach köpfen.« Er hob sein Schwert auf. »Ich schaffe drei Köpfe und mehr mit einem Streich.«
Der konnte mir viel erzählen. Wie einen dummen Jungen ließ ich mich nicht behandeln.
»Gut, Lorenzo, bisher ist es dein Spiel gewesen. Das aber will ich ändern.« Ich zog meine Beretta und zielte mit der Mündung auf ihn.
»Diese Waffe ist mit geweihten Silberkugeln geladen, die das untote Leben eines Dämons zerstören. Du bist ein Mörder, du bist es damals gewesen und hast dich auch heute nicht verändert, denn der Tod des Abtes geht auf deine Kappe. Ich werde dich nicht so einfach weggehen lassen. Ich…«
»Johhhnnn…!« Ein langgezogener Ruf erreichte mich, der in einem Anfall von Gurgeln erstickte.
Ich schaute hoch zur Galerie.
Sie war nicht mehr da, vielleicht doch, denn ich sah sie so gut wie nicht.
Eingehüllt in pechschwarze lichtlose Wolken, präsentierte sie sich.
Schattenhaft erkannte ich in der Wolke die Gestalt des Mönchs Bernardo.
Er brauchte mir nichts mehr zu sagen. Meine Waffe sank von allein nach unten.
Wer da oben
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