0578 - Die Geisel
weiter.
Wohin sie lief, sah sie nicht, obwohl sie die Augen so weit wie möglich geöffnet hatte.
Nur weg…
Irgendein Instinkt sagte ihr, die Beine so hoch wie möglich beim Laufen zu nehmen. Die Gefahr eines Stolperns war damit geringer geworden. Sie zog den Kopf ein, hatte die Hände hochgenommen – und konnte einen Schrei nicht mehr unterdrücken.
Ohne abgestoppt zu haben, war sie gegen ein Hindernis gelaufen.
Es war hart und trotzdem weich, denn es schleuderte sie federnd wieder zurück, so daß sie auf den Rücken fiel.
Sofort kam sie wieder hoch.
Plötzlich strahlte Licht auf. Ein langer, heller Arm fuhr an ihr vorbei und erwischte das vor ihr wachsende Hindernis.
Es war der Zaun aus Maschendraht, gegen den sie gelaufen war.
Sekunden später erst spürte sie die Schmerzen im Gesicht. Jedes Stück Draht schien sie höhnisch anzulächeln.
Hinter sich hörte sie das Klirren der Kette.
Dieses verdammte, verfluchte Geräusch, das einen Menschen wie sie in den Wahnsinn treiben konnte.
»Dreh dich um!«
Die Stimme des Maskierten klang wie ein böses Zischen. Über Marions Gesicht rann ein kalter Schauer. Sie wußte, daß es keinen Sinn mehr hatte, die anderen Trümpfe besaß der Mann mit der roten Kapuze.
Auf der Stelle drehte sich Marion Brookman. Sie schloß die Augen, weil der Lampenstrahl blendend ihr Gesicht traf.
Er wanderte nach unten. Das dumpfe Geräusch der näherkommenden Tritte übertönte selbst ihr heftiges, keuchendes Atmen.
Wieder bewegte sich die Lampe. Der Kegel erfaßte jetzt einige Glieder der blanken Stahlkette.
»Komm her!« drang die Stimme flüsternd durch den dünnen Mundschlitz der Kapuze. »Komm nur her…«
Marion ging nicht, sie brach auf der Stelle zusammen…
***
Es hatte Suko überhaupt nicht gepaßt, in der Wohnung bleiben zu müssen und auf seinen Freund und Kollegen zu warten. Andererseits sah er ein, daß John sich nicht über die Anordnungen einfach hinwegsetzen konnte, um vielleicht noch ein Menschenleben in Gefahr zu bringen.
Suko war zurückgeblieben, hatte wie auf heißen Kohlen gesessen, bis der ersehnte Anruf erfolgt war. Von diesem Augenblick an hatte es für ihn kein Halten mehr gegeben.
Über eines allerdings ärgerte er sich. Daß dieses Ziel so weit von Soho aus entfernt lag. Suko mußte in die südwestlichen Außenbezirke fahren und hatte sich tatsächlich den Weg vorher noch auf der Karte anstreichen müssen.
Er saß in seinem BMW. In dieser Nacht hatte er Glück. Er kam eigentlich verhältnismäßig gut durch die City, auch über die Themse hinweg, die als dunkler Strom die Stadt teilte. Wenig später bewegte er sich durch ein waldreiches Gebiet, in dem nur wenige Fahrzeuge noch unterwegs waren.
Dafür umgab ihn mehr Landschaft. Dichte Waldstücke, mal Wiesen, manchmal eingezäunt, kleine, geballt wirkende, dunkle Orte mußte er ebenfalls durchfahren.
Suko war froh, als er den River Crane erreichte. Dicht vor seiner Mündung in die Themse fuhr er ihn entlang. In der Nähe des kleinen Flusses lag auch sein Ziel.
Brookman wohnte in einem abseits stehenden Haus mitten in der Einsamkeit. Suko hatte vor Beginn der Fahrt von den Kollegen der Fahndung Erkundigungen über Brookman eingezogen. Er wußte jetzt, womit dieser Mensch sein Geld verdiente.
Geldverleiher mußte es geben. Aber bitte sehr, keine privaten, die Wucherzinsen nahmen.
Zu dieser Sorte Mensch schien Brookman zu gehören. Er war jemand, der Wucherzinsen verlangte und war deshalb schon zweimal mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
Für ihn war die Strafe nicht hoch gewesen, aber Suko wußte, mit wem er es zu tun hatte.
Daß er bei vielen Feinden, die Brookman sicherlich besaß, derart einsam lebte, wunderte den Inspektor. Er persönlich hätte dies nicht gewagt.
Später mußte er noch von der normalen Straße ab und durch eine einsame Waldgegend fahren.
Hin und wieder erschien der Fluß an einer der beiden Seiten. John hatte auch von einer Brücke gesprochen. Ihr halbrundes Gerüst erschien im bleichbläulichen Licht der beiden Scheinwerferlanzen, durch die auch dünne Nebelschleier wölkten, die von der Oberfläche des Flusses in die Höhe quollen.
Die Brücke bestand aus Bohlen, und der diamantschwarze BMW schwang darüber hinweg.
Danach konnte Suko wieder etwas mehr Gas geben. Bis zum Ziel waren es nur mehr ein paar Minuten. Einige Kurven nahm der Wagen sicher, als würde er auf Schienen fahren, dann schwenkte das Licht der beiden hellen Lanzen, glitt über einen freien
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