058 - Der Duft von Sandelholz
nähern, an jenem Tag, als sie zu den Stallungen gegangen war. Und obwohl sie einander einiges anvertrauten - und ein paar Küsse geteilt hatten hatte er ihr doch schon bald gesagt, dass sie gehen sollte. Es würde eine Menge Mut erfordern, das noch einmal zu wagen. Aber im Moment brauchte sie eine neue Gelegenheit, sich ihm mit ihren Fragen zu nähern.
Sie wartete auf diese.
Doch dann meldete am Tag nach der Gartenparty Edward seinen Besuch in Mrs.
Clearwells Haus an, und wieder wurde Lily von Schuldgefühlen überwältigt und dachte, er hätte von ihrem Abenteuer auf der Ottomane erfahren. Oder schlimmer noch -dass er gekommen war, um ihr einen Heiratsantrag zu machen!
Aber er war nur erschienen, um ihr zu sagen, dass seine Mutter jetzt nach Jamaika aufgebrochen wäre und dass er für seinen Teil die Stadt wegen geschäftlicher Angelegenheiten für ein paar Tage verlassen würde. Ihr hatte das Herz bis zum Hals geschlagen, und dann hatte sie höflich genickt und ihm eine gute Reise gewünscht.
Kaum war er gegangen, jubelte sie innerlich über diese Neuigkeit. Sie erkannte sofort den günstigen Umstand, mit Derek bei dem bevorstehenden Ball zu sprechen, ohne sich sorgen zu müssen, dass Edward sie zusammen sah oder ihnen im Weg stand.
Die Zukunft, das Geld, die hohen Erwartungen ihrer Mutter -sie würde all das hintanstellen, bis sie wusste, was Derek tun wollte.
Mehr oder weniger hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, doch an dem Abend, als das Konzert bei Lord Fallow stattfand, hatte er auch Mrs. Coates im Scherz einen solchen Antrag1 gemacht. Daher wusste sie, dass sie das nicht ernst nehmen durfte.
Unabhängig davon war sie jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass seine Scherze oft nur dazu dienten, seine wahren Gefühle zu verbergen.
Ihre Unsicherheit strapazierte ihre Nerven bis zum Zerreißen, aber wenigstens würde ihr der kommende Ball eine Aussicht geben, mit Derek einige Worte zu wechseln.
Als Lily sich am nächsten Abend für das festliche Ereignis vorbereitete, frisierte die Zofe ihr das Haar in einem außergewöhnlichen Stil und steckte es mit edelsteinbesetzten Nadeln auf, wobei sie ein paar Strähnen an Nacken und Schläfen frei
herunterhängen ließ. Zum ersten Mal gefiel Lily das Aussehen, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie ihr Gesicht und die Figur verflucht, die die unerwünschte Aufmerksamkeit unanständiger und aufdringlicher Männer erregten. Doch mit jedem Tag schien dieser Teil ihres Lebens weiter in der Vergangenheit zu verschwinden. Und jetzt schien ihr alles, was Derek an ihr gefiel, ein Grund zur Dankbarkeit zu sein. Ihr wurde leicht ums Herz.
Ein paar Stunden später ging sie Seite an Seite mit Mrs. Clearwell durch den Ballsaal und suchte insgeheim in der Menge nach einem Zeichen von Dereks Anwesenheit.
Hier und da nickte sie verschiedenen Bekannten zu, knickste vor einigen der höherrangigen Gäste, die vorübergingen, und raffte die Röcke aus dem Weg eines sich besonders ungeschickt vorbeidrängenden Gentleman.
Als die Katastrophe auf diese Weise knapp verhindert worden war, ließ sie den Blick, verborgen hinter ihrem Fächer, durch den Ballsaal gleiten. Nicht ganz ohne Bosheit suchte sie nach einer verräterischen Gruppe schöner Frauen, denn ganz gewiss würde der Schuft sich genau in deren Mitte befinden.
Stattdessen erblickte sie aber den anderen Knight, der an einer der ionischen Säulen des Ballsaals lehnte.
Gabriel stand allein da, offenbar war er in Gedanken verloren. Wie verschieden die beiden Brüder doch sind, dachte sie. Gewöhnlich war Derek der strahlende Mittelpunkt eines Festes, während Gabriel abweisend die Stirn runzelte und aussah, als wäre er lieber an einem anderen Ort.
Lily stieß Mrs. Clearwell an und deutete auf den älteren Knight. Ihre Gönnerin lächelte ihr zu. „Vielleicht können du und ich ihn etwas aufheitern."
„Wir können es versuchen", sagte Lily und lachte leise. Während sie auf ihn zugingen, besserte sich bereits ihre Stimmung. So nahe, wie die Brüder sich standen, konnte Derek nicht weit sein.
Sie begrüßten den älteren Knight und tauschten ein paar Höflichkeiten. Doch es dauerte nicht lange, dann fragte Lily: „Wo ist Ihr Bruder heute?"
„Ehrlich gesagt, er ist nicht hier."
„Oh." Sie hielt einen Moment lang erschrocken inne. „Kommt er später?"
„Nein, er hat für ein oder zwei Tage die Stadt verlassen."
Lily starrte ihn an. „Die Stadt verlassen?" Genau das
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