058 - Der Duft von Sandelholz
Sie musste an Derek denken. Sie wusste, dass er wartete. Sie fühlte es in ihrem Herzen. Jetzt zählte jeder Moment.
Mit einem entsetzten Blick zum Stall streckte sie den Knochen aus, bis sie sicher war, die Aufmerksamkeit des Hundes erregt zu haben.
„Brutus! Hier, mein Junge. Sieh mal! Das ist für dich! Ja! Ruhig. Braver Junge."
Der Hund sprang noch einmal hoch, aber diesmal hatte er es auf den Schinkenknochen abgesehen.
„Guter Junge - und jetzt hol!"
Mit aller Kraft schleuderte sie den Knochen dorthin, wo es nach ihren Überlegungen am günstigsten erschien.
Die Kettenglieder klirrten, als Brutus hinterherrannte.
Ohne sich umzusehen, sprang sie vom Spalier herunter, landete auf den Knien im Gras, erhob sich und lief so schnell sie konnte zum Stall. Instinktiv hielt sie den Atem an, als sie die Kette hinter sich rasseln hörte.
Sie stolperte, trat auf den zerrissenen Saum ihres Kleides, fiel und rollte sich weiter, nur um in Bewegung zu bleiben.
Dann hörte sie ein ohrenbetäubendes Bellen.
Als sie durch ihr zerzaustes Haar blickte, befand sie sich mit Brutus auf Augenhöhe.
Er hatte sie fast eingeholt. Mit weit aufgerissenem Maul lief er auf sie zu. Er schien zu glauben, sich bei einem Hundekampf zu befinden.
Aber ein plötzlicher Ruck an seinem Hals veranlasste ihn stehen zu bleiben. Die Kette war straff gespannt, es gab für das Ungeheuer keinen Spielraum mehr. Seine Kiefer schnappten knapp vor Lilys Gesicht zu.
Die Kette hielt stand.
Langsam wich sie zurück.
Gütiger Himmel, wie konnte ich je daran denken, einen Mann zu heiraten, der sich so ein Schoßtier hält?
Als Lily klar wurde, dass sie noch immer am Leben war, dass Brutus sie nicht gefressen hatte, stand sie auf und lief weiter zu den Stallungen.
Niemand achtete auf sie. Sie spürte bereits die Hitze, die von den hohen Flammen ausging. Und Edwards durchdringende Stimme hörte sie, ehe sie ihn sah. Eingehüllt in den Rauchwolken, schrie er panisch: „Fangt die Pferde ein, ehe sie davonlaufen!
Das wird euch den Kopf kosten!" Trotz des dichten Qualms erhaschte sie dennoch einen Blick auf ihn. Vollkommen außer sich, lief er auf und ab, die Hände an den Kopf gepresst.
Hin und wieder blieb er wieder stehen und brüllte seine Gefolgsleute an. „Gießt Wasser dorthin. Dorthin!" Hektisch zeigte er auf die Wand, aus der Flammen schlugen. „Schneller, ihr nutzlosen Bastarde!"
Um jeden Preis wollte Lily ihm aus dem Weg gehen, aber sie würde an ihm vorbeigehen müssen, um zum Stall zu gelangen. Sie ging weiter, hoffte, sich an ihm vorbeischleichen zu können, aber dann, ganz plötzlich, wären sie in dem Durcheinander um ein Haar zusammengestoßen.
Edward trat aus einer Wolke dichten Rauchs und packte ihren Arm. Seine Miene wirkte fast so bösartig wie die seines Hundes. „Was tun Sie außerhalb Ihres Zimmers?"
„Lassen Sie mich los! Wo ist Derek?"
„In der Hölle, wie ich hoffe."
„Er ist noch da drinnen, oder?"
„Vergessen Sie ihn."
Lily versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. „Lassen Sie mich ihn herausholen."
„Er verdient es, zu verbrennen. Sehen Sie, was er mir angetan hat!" Mit wütender Geste deutete Edward auf den Stall.
„Ich werde nicht zulassen, dass Sie ihn töten."
„Bleib hier, verdammt!"
Es war keine Zeit für einen Kampf, und da Dereks Leben auf dem Spiel stand, war vor allem keine Zeit vorhanden, fair zu kämpfen. Lily holte weit mit ihrem Fuß aus und trat Edward zwischen die Beine, so fest sie konnte.
Mit einem lauten Aufschrei ließ er sie los, sank auf die Knie und presste die Hände auf die schmerzende Stelle. Lily lief zu dem brennenden Stall.
Ein soeben befreites Pferd kam aus dem Rauch gelaufen und hätte sie um ein Haar in dem breiten Mittelgang überrannt, aber Lily sprang noch rechtzeitig zur Seite.
Dann lief sie weiter und schützte mit ihrem Ärmel Mund und ihre Nase so gut sie konnte von dem beißenden Qualm.
„Derek! Derek!" Immer wieder schrie sie seinen Namen. Sie konnte nur ein paar Fuß weit durch den Rauch sehen, die glühende Hitze machte ihr bereits zu schaffen.
„Derek! Wo bist du? Kannst du mich hören?"
Dann, über das Prasseln und Zischen des Feuers hinweg, hörte sie ein rhythmisches Klopfen aus den Tiefen des Stalls - Metall wurde auf Metall geschlagen.
Derek.
Zuin Glück war er bei Bewusstsein - und kämpfte anscheinend mit aller Kraft, die Tür aus seinem Käfig zu treten.
„Derek, ich komme!"
„Lily?" Das Klopfen hörte auf. Sie hörte ein Husten.
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