058 - Der Duft von Sandelholz
aufstieß, suchte sie mit den Augen das ab, was sie überblicken konnte.
Wo mochte er sein? Gütiger Himmel. Sie umklammerte den Fenstersims. Was, wenn er noch immer dort drin war?
Etwas tief in ihr sagte ihr, dass das der Fall war. Sie wusste sofort, dass sie ihm helfen musste.
Augenblicklich war sie aufgesprungen. Sie eilte durch den Raum und rüttelte an der fest verschlossenen Tür. Nichts geschah. Sie schlug mit den Fäusten dagegen und rief so laut, dass jeder Dienstbote in der Nähe es hören konnte.
Niemand kam.
Sie gab diese nutzlose Anstrengung auf und ging voller Wut zum Fenster zurück, wohl wissend, dass sie die Sache selbst in die Hand nehmen musste.
Bis nach unten war es weit, vor allem, wenn dort ein wütender Hund wartete. Aber als sie sich so weit aus dem Fenster lehnte, wie sie es nur wagen konnte, um ihre Möglichkeiten in Augenschein zu nehmen, entdeckte sie zu ihrer Rechten ein Efeuspalier. Wenn sie es zu fassen bekam, würde sie das Gitter als Leiter zum Hinunterklettern benutzen können. Doch was sollte sie wegen des Hundes unternehmen?
Es war klar, warum Edward befohlen hatte, dieses Ungeheuer unter ihrem Fenster anzuleinen - um sie an der Flucht zu hindern.
Sollte sie es dennoch wagen?
Brutus würde sie zerreißen, ehe sie auch nur einen Fuß auf den Boden des Gartens setzte. Ah! Sie erinnerte sich an das Tablett mit dem schrecklichen Essen, das der Diener gebracht hatte.
Als sie jetzt das Tuch wegnahm, erschienen ihr die Speisen noch abstoßender als zuvor, kalt und klumpig. Vermutlich war der Kampfhund jedoch nicht sehr wählerisch. Sie verzog das Gesicht und nahm den fettigen, tropfenden Schinkenknochen aus der Suppenschüssel.
Anschließend ging sie zurück zum Fenster, fest davon überzeugt, dass das, was sie sich vorgestellt hatte, Wahnsinn war. Gleichzeitig wusste sie, dass sie etwas unternehmen musste. Als sie noch immer keine Spur von Derek erkennen konnte, wurde ihr bewusst, dass niemand ihm helfen würde, wenn sie es nicht tat. Die anderen würden nicht ihr Leben einsetzen, um einen Mann zu retten, den sie von Anfang an am liebsten tot gesehen hätten.
Fest entschlossen und ein wenig erstaunt über ihre eigene Kühnheit, schob Lily mit einem Ausdruck von Ekel in ihrem Gesicht den schleimigen Knochen unter ihr zerrissenes Mieder und machte sich daran, die steile Wand von Edwards Herrenhaus hinunterzuklettern.
Vorsichtig, mit dem Rücken an die Außenmauer gepresst, bewegte sie sich auf dem schmalen Mauervorsprung voran. Langsam, nur ganz kleine Schritte! Bei einem kurzen Blick nach unten wurde ihr schwindelig.
Sie hoffte sehr, dass sie nicht abrutschen würde. Als sie endlich das obere Ende des hölzernen Spaliers erreicht hatte, fühlten sich ihre Knie weich an, und ihre Handflächen waren feucht von Schweiß. Dadurch wurde das Klettern nicht gerade einfacher, vor allem nicht mit einem fettigen Schinkenknochen im Kleid.
„Au", murmelte sie, als sie sich auf dem Weg nach unten an dem Dorn einer Rose stach, die zwischen dem Efeu wuchs.
Brutus hatte sie längst bemerkt.
Die Kette klirrte, als er zur Spalierwand gerannt kam, wo er augenblicklich wieder zu bellen begann.
Lily erschrak, als der Hund an ihr hochsprang. Es hätte nicht viel gefehlt, und Brutus hätte ihren Fuß zwischen seinen Lefzen gehabt. Wie sollte sie je nach unten gelangen, wenn dieses Ungeheuer sie schon jetzt zu fressen versuchte?
Sie schrie leise auf, als es bei seinem nächsten Versuch die lange Schleppe ihres Reitkleids abriss. Sie selbst konnte sich gerade noch an das Gerüst festklammern, während der Hund mit dem Stoff zu Boden fiel.
Sie rief Brutus in dem freundlichsten Ton, der ihr möglich war. Anschließend zog sie den abscheulichen Knochen aus ihrem Mieder und schwenkte ihn hin und her, in der Hoffnung, das schwarze Tier würde ihn sehen.
Brutus hörte auf zu bellen, er hatte Witterung aufgenommen.
Lily versuchte nun zu berechnen, wohin sie den Knochen werfen musste: Wie lang war die Kette des Hundes? Was war die Richtung, die ihrer entgegengesetzt war?
Vorausgesetzt, das Ungeheuer würde den Köder überhaupt schnappen, blieben ihr vermutlich nur ein paar Augenblicke, um nach unten zu springen und seiner Reichweite zu entkommen.
Was, wenn seine Kette riss? Wie konnte sie ihn dann aufhalten? Mit nichts. Wenn das geschehen sollte, dachte Lily, würde sie sterben. Und zwar auf sehr unschöne Weise. Aber bei lebendigem Leib zu verbrennen, stellte sie sich schlimmer vor.
Derek.
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