059 - Blutige Küsse
solch einen Menschen in den Griff zu bekommen.
Seine Rechnung war aufgegangen. Der Count hatte nur zu gern und willig diesen Köder angenommen und wollte Dorian Hunter in seine Abhängigkeit bringen. Er wollte diesen Menschen studieren und an ihm neue Mixturen und Verbindungen ausprobieren. Damit aber ließ er gleichzeitig seinen ärgsten Feind ins Schloss.
Demur Alkahest träumte davon, eine beherrschende Rolle zu spielen. Innerhalb der Dämonenfamilie war er bisher so etwas wie ein kleines, unbedeutendes Licht gewesen; jetzt aber bot sich ihm endlich die Möglichkeit, zu zeigen, was tatsächlich in ihm steckte. Brachte er das Geheimnis des Theriak in seinen Besitz, konnte er innerhalb kürzester Zeit einen Machtbereich aufbauen, wie er selbst in Dämonenkreisen nicht üblich war. Und diese Macht wollte er so schnell wie möglich besitzen.
Dorian sollte das stets wache Misstrauen seines Onkels Lucius ablenken. Ja, vielleicht ließ Dorian sich sogar als Mordwaffe verwenden. Demur hatte da so seine Vorstellungen. Er war schließlich gerissen und machtgierig. Da er selbst ein Mitglied seiner Familie nicht umbringen durfte und wollte, konnte Dorian das unter Umständen übernehmen.
»Werden sie dort nicht stören?«, hörte er Dorians Stimme. Demur beobachtete die jungen Menschen, die den Campingplatz ebenfalls belauerten.
»Bestimmt nicht«, sagte Demur wegwerfend. »Die sind wahrscheinlich auch schon von Valby auf ein paar andere Frauen angesetzt worden. Je größer der Wirbel, desto sicherer deine Einladung, Dorian.«
Sie fühlte die Ausstrahlung des Bösen, hielt plötzlich den Atem an und horchte. Ein undeutliches Wispern schien gerade hinter ihr gewesen zu sein.
Judy Leaders richtete sich auf und sah sich blitzschnell um, konnte jedoch nichts entdecken. Sie redete sich ein, dass es sich um eine Täuschung gehandelt haben musste, doch unwillkürlich dachte sie an den schlanken unheimlichen Mann, den sie vor zwei Tagen am Rand des Campingplatzes getroffen hatte. Aus schwarzen, tief liegenden Augen hatte der Mann sie schweigend, aber auch prüfend und geradezu abschätzend angesehen. Judy Leaders bekam sofort eine Gänsehaut, als sie an diese Erscheinung dachte.
Und jetzt stellte sich dieses unheimliche Gefühl erneut ein. Judy Leaders kam sich wie ausgezogen vor. Schützend legte sie ihre gekreuzten Arme vor die Brust und zog die Beine an. Nackt und schutzlos kam sie sich vor. Sie holte tief Luft und stand hastig auf.
Prüfend schweiften ihre Blicke zum Wald hinüber, hinunter zum Bach und dann zum gegenüberliegenden Wald hinauf. Woher diese bösartige Ausstrahlung kam, vermochte sie nicht zu sagen. Sie fühlte nur, dass es besser war, diesen Campingplatz möglichst schnell zu verlassen.
Judy Leaders war eine moderne junge Frau. Sie arbeitete als Sekretärin bei einer Straßenbaufirma und war nicht so leicht ins Bockshorn zu jagen. Mit Männern wusste sie umzugehen und gewisse Aufdringlichkeiten abzuwehren. Angst hatte sie bisher nicht gekannt.
»Bist du verrückt?«, fragte ihre derbe, untersetzte Mutter, als Judy vorgeschlagen hatte, den Campingplatz zu verlassen.
»Hier ist's doch prächtig«, meinte ihr Vater und sah sie kopfschüttelnd an. »Kaum Betrieb, Ruhe und 'ne herrliche Gegend.«
»Ich möchte weiter«, drängte Judy. »Anderswo ist es vielleicht noch schöner.«
»Du mit deinen ewigen Launen«, beschwerte sich Judys Mutter und sah ihre Tochter verärgert an. »Es lohnt sich doch überhaupt nicht mehr, Judy. In vier Tagen ist unser Urlaub ohnehin zu Ende.«
Judy hätte ihren Eltern sagen können, dass sie sich fürchtete, dass sie fühlte, dass sich über ihrem Kopf etwas Unheilvolles zusammenbraute, doch sie verzichtete darauf. Ihre Eltern hatten für solche unsagbaren Dinge kein Gespür. Sie waren seelisch einfach zu robust.
»Schon gut«, sagte sie also und verließ wieder den Wohnwagen, auf den ihre Eltern so stolz waren. Sie zündete sich eine Zigarette an und schlenderte um den Trailer herum. Dabei beobachtete sie erneut den Wald und den Bach. Sie hätte schwören können, dass sie beobachtet wurde.
Judy Leaders ging zum Bach hinunter, der in Höhe des Campingplatzes einen kleinen See bildete. Einige Kinder planschten in dem seichten Wasser herum und spielten Ball. Judy ging am Ufer entlang und entdeckte dann plötzlich genau den Mann, an den sie eben erst gedacht hatte.
Groß, hager und schweigend stand er neben einem Baum und starrte sie an.
Judy schoss das Blut ins Gesicht.
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