059 - Blutige Küsse
Am liebsten hätte sie sich sofort auf dem Absatz umgedreht, doch dann unterdrückte sie diesen Wunsch. Sie wollte diesem Mann gegenübertreten und ihm ein paar harte Fragen stellen. Sie raffte ihren ganzen Mut zusammen und ging zu ihm hinüber.
Diesmal wandte er sich nicht ab und verschwand. Er blieb stehen und sah sie mit seinen schwarzen Augen an, in denen sich Gier und Verlangen spiegelten.
»Sie gehen mir allmählich auf die Nerven«, sagte Judy, nachdem sie ihn erreicht hatte. »Warum sind Sie hinter mir her? Haben Sie noch nie eine Frau gesehen?«
Er wich unsicher einen halben Schritt zurück und ließ seinen Blick an ihr heruntergleiten. Dieser Blick war scheu und befangen.
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte Judy. Sie bekam Oberwasser.
»Valby. John Valby«, stellte er sich vor und deutete eine überkorrekte Verbeugung an. »Ich bin der Sekretär des Count of Alkahest.«
»Dann müssen Sie aber verflixt viel freie Zeit haben«, spöttelte Judy. Sie wunderte sich nachträglich darüber, dass sie vor diesem Mann Angst gehabt hatte. Er wirkte auf sie verklemmt und unsicher. Wahrscheinlich hatte er eine Frau in diesem Aufzug noch nie gesehen. Sie war sich ihrer Weiblichkeit plötzlich voll bewusst und bewegte sich kokett. Judy wusste, wie gut sie aussah.
»Ich habe meine Freistunde«, gab der Mann zurück, der sich John Valby nannte, »und ich wollte Sie keineswegs belästigen.«
»Gehören Sie zu dem Schloss da unten im Loch Sinclair?«, fragte sie. Natürlich hatte sie es schon einige Male gesehen und es für unbewohnt gehalten.
»Ich bin der Sekretär und Vertraute des Grafen«, gab John Valby zurück.
»Kann man in dem alten Gemäuer wirklich leben?«, stellte sie ihre nächste Frage.
»Der äußere Eindruck täuscht«, meinte der Sekretär des Count of Alkahest. »Der Graf und ich leben dort schon recht lange.«
»Man sieht's Ihnen an«, erwiderte sie ironisch und musterte ihn nun ihrerseits. Er erinnerte sie an eine Figur aus einem Horrorfilm, den sie vor einigen Wochen gesehen hatte. Alles an diesem Mann war düster und beklemmend.
»Darf ich mich entschuldigen, falls ich Sie erschreckt haben sollte?«
»Schon in Ordnung.«
Judy Leaders bemühte sich um ein verzeihendes Lächeln. Sie wollte sich schon wieder abwenden, als er plötzlich eine Hand ausstreckte. Sie steckte in einem schwarzen Handschuh und ließ Judy unwillkürlich zurückfahren. Die langen Finger dieser Hand erinnerten sie an die dünnen Beine einer Spinne. Judy spürte wieder die Gänsehaut.
»Vielleicht darf ich Ihnen einen Versöhnungsschluck anbieten«, redete der seltsame und unheimliche Mann weiter. »Ich möchte nicht, dass Sie schlecht von mir denken.«
Sie entdeckte in der Hand erst jetzt ein flaches, kleines Fläschchen, das er aufschraubte.
»Was ist denn das?«, fragte sie überrascht und misstrauisch.
»Ein Kräuterlikör«, erwiderte der Mann, der sich John Valby nannte. Sie merkte, wie sehr seine Stimme sich verändert hatte. Sie klang nun lockend und überraschend weich. Er beugte sich vor und brachte das flache, kleine Fläschchen näher an sie heran.
»Sie sind verrückt«, erwiderte sie abwehrend. »Was denken Sie sich eigentlich? Glauben Sie etwa, ich würde so ohne weiteres etwas trinken, was ich nicht kenne?«
»Dieser Likör wird bei uns im Schloss hergestellt«, sagte der Sekretär des Count of Alkahest einschmeichelnd. »Sie werden überrascht sein, wie gut er schmeckt. Bitte!«
Seine Bitte klang fordernd und ungeduldig. Er trat näher auf sie zu, ohne die Hand zu senken. In seinen dunklen Augen war jetzt ein unheimliches Glühen. Sein Mund hatte sich ein wenig geöffnet und zeigte gelbliche Zähne.
»Wenn Sie nicht sofort abhauen, werde ich schreien«, fuhr Judy Leaders ihn an. »Mann, was bilden Sie sich eigentlich ein?«
Sie hatte sich etwas zu sicher gefühlt. Bevor sie überhaupt reagieren konnte, hatte er sie bereits an sich gezerrt. Sein linker Arm umschlang ihren Oberkörper. Die rechte Hand führte das kleine, flache Fläschchen an ihren Mund. Er wollte sie zwingen, den angeblichen Kräuterlikör zu trinken.
»Nein, nein!«, keuchte Judy in grenzenloser Angst. Sie wollte um Hilfe schreien, doch sie schaffte es einfach nicht; sie befand sich in den Armen eines schrecklichen Ungeheuers und vermochte nicht Widerstand zu leisten. Die Öffnung des Fläschchens kam immer näher an ihre Lippen heran. Sie roch bereits den verführerischen, fremdartigen Duft, knickte in den Knien ein und
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