059 - Der Preller
»Aber Mensch, sie hatte doch zehn Jahre bekommen?« verwunderte er sich.
»Weiß ich alles, aber der Fall kam vor das Oberste Gericht, und das Urteil wurde wegen eines Formfehlers aufgehoben. Der amerikanische Botschafter mischte sich ein, worauf man sie freiließ. Es stand heute morgen in der Zeitung. Ich habe es mit eigenen Augen gelesen.«
»Hm! Ich glaube, für dich wird bald die Hölle losbrechen.«
Anthony nickte. »Du magst recht haben«, gab er zurück, »denn Meg ist eine der wenigen, die mich jemals wirklich gesehen haben. Du entsinnst dich doch ihrer letzten Worte, als sie nach der Urteilsverkündung abgeführt wurde, nicht wahr? Sie hat eine richtige Bande, trefflich organisiert und geführt, und sie wird ihre Bluthunde so bald wie möglich auf mich loslassen. Daran zweifle ich keinen Augenblick.«
»Warum, zum Donnerwetter, werden eigentlich diese ausländischen Verbrecher nicht abgeschoben?« erregte sich Paul in komischer Entrüstung. Eine Lachsalve quittierte diesen Ausfall. Erst nach geraumer Zeit hatte sich der Preller von seiner wirklich berechtigten Heiterkeit so weit erholt, daß er auf die nächste Frage Pauls antworten konnte: »Weißt du, wo sie sich aufhält, Anthony?« hatte ihn der Freund gefragt.
»In Highbury Manor House, Wilcombe on Sea«, gab der Preller Auskunft. »Ihr gegenwärtiger Name ist Miss Morrison.«
»Du scheinst deinen Nachrichtendienst wirklich ganz hervorragend organisiert zu haben«, konstatierte Paul.
»Ich bin mein eigener Nachrichtendienst. Ich folgte Ihrer Hoheit nach Wilcombe und sandte mir von dort, da ich bemerkt hatte, daß auch ich Schritt für Schritt von ihren Leuten verfolgt wurde, selbst ein Telegramm. Ein Vertreter Madames blickte mir die ganze Zeit, während ich es niederschrieb, über die Schulter. Mit dem Telegramm wollte ich zweierlei erreichen: Erstens wollte ich meiner Freundin die Gewißheit geben, daß ich meinen Spionagedienst auf der Höhe halte, und zweitens sollte sie keinen Zweifel darüber haben, daß ich weiß, wo sie sich aufhält. In einigen Tagen werde ich dich nach Wilcombe schicken, Paul, wo du dich, scheinbar zwecklos, als Privatdetektiv herumtreiben sollst. Miss Morrison und ihre Bande sollen dadurch die Überzeugung bekommen, daß sie und ihr Haus unter Beobachtung gehalten werden. Besonders sollst du dein Augenmerk auf eine Miss Stillington richten.«
»Wer, zum Donnerwetter, ist denn nun wieder diese Miss Stillington?« erkundigte sich Paul überrascht.
»Miss Stillington ist die Person, die das Pech gehabt hat, als Gesellschafterin Miss Morrisons engagiert zu werden. Wie ich erfahren habe, weiß sie nichts von dem wirklichen Charakter ihrer Brotherrin.«
Paul setzte sich bequemer in seinem Stuhl zurecht und brannte sich eine Pfeife an.
»Und was beabsichtigst du mit allen diesen Vorbereitungen zu erreichen? Glaubst du, daß Meg ihr Raubgut in Highbury Manor House versteckt hält?«
Anthony nahm eine geheimnisvolle Miene an.
»Ja, das glaube ich. Van Deahy ist bei ihr, und er hätte doch vor allen Dingen Ursache, sich versteckt zu halten.«
»Warum aber verläßt sie England nicht für immer? Geld hat sie doch wohl genug!«
»Weil sie mit mir aufräumen will«, erwiderte Anthony. »Sie wird dem Preller eins auswischen, und wenn sie selbst dabei vor die Hunde gehen sollte.«
»Ich wünschte, das letztere geschähe, ehe sie noch mehr Unheil anrichten kann«, meinte Paul. »Wann soll ich abreisen?«
»Übermorgen, mit dem Nachtzug. Vergiß aber nicht zu berücksichtigen, daß du dort rings von ihren Spionen umgeben bist; sogar deine Post wird überwacht werden.«
»Aber warum .«
»Qui vivra verra«, zitierte Anthony mit einem Augenzwinkern. »Ich habe so eine kleine Ahnung, als wenn ich doch wieder den Siegeslorbeer in diesem Kampf erringen würde.«
Wilcombe war keineswegs ein Badeort, den eine im gesellschaftlichen Leben stehende junge Dame sich als Aufenthalt ausgesucht hätte. Für Milwaukee Meg, alias Mrs. Yonker, alias Miss Morrison, war es aber der geeignetste Fleck, um dort ihr Hauptquartier aufzuschlagen. Das Städtchen lag abseits von den großen Verkehrsadern des Landes und zu weit ab von der Hauptstadt, um ein wünschenswertes Ziel von Wochenendlern zu sein. Schmutzige Straßen, von geschmacklosen Häusern eingefaßt, führten zum sogenannten Luxusviertel. Die Promenade, ironischerweise Strandpromenade genannt, wies ein einziges stilgerechtes Haus auf - alt und geräumig. Es war entstanden, als an die
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