0593 - Das Zeichen
dies hier das Ende, denn der Rabbi und Sinclair waren nicht dumm. Sie hatten sicherlich Verdacht geschöpft.
So leise wie möglich schritt sie dem Bett entgegen, das schon einem Totenlager glich.
Was war hier vorgefallen?
Sarah schob das Kopftuch zurück. In ihrem faltigen Gesicht stand die Sorge zu lesen. An den Augenrändern glitzerte Tränenwasser.
Die Lippen zuckten, als sie mit flüsternden Worten den Sohn des Rabbi ansprach.
»Nathan, Junge, Nathan, hörst du mich?« Sie hatte beschwörend und flüsternd gesprochen, jedes Wort wurde von ihr betont, als wollte sie es dem Liegenden einsuggerieren.
Nathan blieb ruhig liegen. Für einen kurzen Augenblick erschrak die alte Sarah heftig, da sie das Gefühl hatte, mit einem Toten zu sprechen, dann aber stellte sie fest, daß Nathan atmete, wenn auch flach.
Aus ihrem weiten dunklen Rock, wo die Tasche zwischen den Falten verschwand, holte sie ein Tuch hervor und tupfte damit Schweißtropfen vom Gesicht des Rabbiner-Sohns.
Diese sanfte Berührung besaß so etwas wie die Wirkung einer Initialzündung. Er öffnete die Augen – und schaute sie an.
Keiner blickte zur Seite. Da bohrte sich etwas ineinander, da wurde geforscht, gesucht, und es war Sarah, die sich ein erstes Lächeln gestattete, während sich im Blick des Kranken so etwas wie Unverständnis ausbreitete.
»Wie geht es dir, Nathan?«
»Gut – ja, es geht mir gut.« Er überlegte, bevor er die nächsten Sätze sprach. »Ich habe das Gefühl, ein anderer zu sein, begreifst du das? Ich komme mir vor wie ein Schläfer, der erst nach langen Jahren und in einem anderen Jahrhundert aufgewacht ist. Komisch.«
Sarah schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht komisch, das ist überhaupt nicht ungewöhnlich. Du bist ein anderer geworden, Nathan Jehuda.«
»Wie?«
Die Frage war spontan gestellt worden, doch Sarah ließ sich Zeit mit der Antwort. »Es ist etwas eingetreten, das in der alten Weissagung der kabbalistischen Mystik schon längst niedergeschrieben wurde, Söhnchen.« Er hatte nichts gegen die vertrauliche Anrede einzuwenden gehabt, schon in der Kindheit war er so angesprochen worden.
»Alles bei mir?«
Sie nickte. »Ja, Söhnchen, nur bei dir.«
»Das begreife ich nicht.«
Sie ließ nicht locker. »Du bist der Auserwählte, Söhnchen. Begreifst du das?«
Nathan überlegte. »Ich bin der Sohn des Rabbi Jehuda, aber nichts anderes.«
Sarah wirkte plötzlich unwirsch.
»Vergiß deinen Vater. Jetzt geht es um andere Dinge. Er wird uns nicht stören, dafür habe ich gesorgt. Mein ganzes Leben habe ich darauf hingearbeitet. Ich habe stets den Mund gehalten, nichts gesagt, immer nur gedacht. So stufte man mich als Getreue des Rabbi ein. Ich war auch treu, doch niemand konnte mir die eigenen Gedanken verübeln.«
Nathan bewegte seine Stirn. »Du hast von gewissen Dingen gesprochen, Sarah, welche sind das denn? Ich habe keine Ahnung, ich weiß nichts, deshalb muß ich dich fragen.«
»Warte zunächst einmal ab, Söhnchen. Wir müssen dann hier weg, und noch eines solltest du wissen: Du mußt dich vor einer bestimmten Person hüten, vor einem Mann, der auf den Namen John Sinclair hört. Er ist gefährlich, glaube mir.«
»Den kenne ich nicht.«
»Das glaube ich dir sogar, er hat dich aber trotzdem verändert. Er ist gewissermaßen zu deinem Schicksal geworden, Söhnchen. Durch ihn bist du den Weg gegangen, er hat mitgeholfen, die Mystik der Kabbala ins Leben zu rufen.«
Nathan atmete durch die Nase. Sein Gesicht bekam allmählich die Farbe zurück. Als er Sarah anschaute, zuckten seine Mundwinkeln.
»Es ist alles noch nicht zu fassen, Sarah. Du hast mir da viel erzählt, sehr viel sogar, und ich muß dir glauben, denn ich habe eine Veränderung bei mir gespürt.«
»Na bitte.«
»Aber wie genau? Was hat man mit mir alles angestellt? Ich habe geschlafen, geträumt und habe dennoch einen gewissen Umbruch mitgemacht, wenn du verstehst.«
»Du mußt gefühlt haben, instinktiv gefühlt.«
Er nickte im Liegen. »Und das Brennen, Sarah, ich spürte das Brennen. Nicht nur an meiner Hand, es breitete sich auch im Körper aus. Es war aber nicht schlimm.«
»Öffne die Faust!«
»Und dann?«
»Wirst du es sehen, Söhnchen, ganz bestimmt. Wenn du deine linke Hand flach auf die Bettdecke legst, können wir beide schauen, was dir die alten Lehren der Kabbala hinterlassen haben. Es ist ein Versuch gemacht worden, der sich lohnen wird. Deine alte Existenz wurde gelöscht, die neue ist zutage
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