0593 - Das Zeichen
getreten.«
Nathan schaute sie forschend an, als würde er ihr kein Wort glauben. Auch das feine Lächeln wirkte ähnlich. Noch war es der Frau zu unsicher, die Sicherheit mußte ihr Schützling erst noch finden.
Sie war fest davon überzeugt, daß er es mit ihrer Hilfe auch schaffte.
Sehr langsam legte er die Hand mit dem Rücken nach unten auf das dünne Laken.
»Da ist es!« flüsterte Sarah scharf.
Nathan schaute hin. Sein Blick flackerte, er bewegte die Augenlider, als könnte er nicht begreifen, daß sich etwas verändert hatte.
»Siehst du es?«
»Ja, aber…«
»Es ist das Zeichen, dein Stigma!« sagte sie mit einer drängend klingenden Stimme. »Das geschwungene M. Weißt du denn, was es bedeutet, Söhnchen? Weißt du das?«
»Noch nicht. Jedenfalls nicht genau. Meine Erinnerung ist auch zu schwach. Ich komme da nicht mehr mit. Tut mir leid, Sarah, aber ich weiß nicht Bescheid.«
»Er hat dich übernommen, Söhnchen. Es gibt keinen Nathan mehr, du bist jetzt durch den Buchstaben gekennzeichnet. Du wurdest von ihm übernommen oder adoptiert. Ist das nicht wunderbar, Söhnchen? Du bist jetzt er. Dir ist es gelungen, in die große Schar derjenigen aufzusteigen, die über den Menschen stehen.«
Nathan wandte sich mit einer konkreten Frage an die alte Magd.
»Was bedeutet das M?«
»Es ist der Anfangsbuchstabe eines Namens.«
»Und?«
»Michael!«
Nathan überlegte. Nur für wenige Sekunden zeigte er sich verunsichert. Dann erhellte sich sein Gesicht, als er die Lösung gefunden hatte. »Michael, der Engel?«
»Der Erzengel, Söhnchen. Er hat dich übernommen. Du bist jetzt etwas Besonderes, du stehst weit über den Personen, die dich umgeben. Du kannst alles vergessen. Du bist ein Führer geworden und wirst noch sehr mächtig werden.«
Es war nicht klar, ob Nathan die Worte verstanden hatte, weil er ununterbrochen gegen seinen linken Handballen starrte, wo sich das Zeichen in einer braunroten Farbe abmalte. Es war nicht in die Haut eingebrannt worden, obwohl es so aussah. Als er mit dem Zeigefinger der Rechten darüber hinwegstrich, spürte er keine Vertiefungen in der Haut. Es kam ihm vor, als wäre es aufgemalt worden.
»Nun, mein Söhnchen?«
Scharf atmete er aus. Auf seiner Stirn hatte sich der Schweiß zu einer Schicht zusammengefunden. »Ja«, sagte er schließlich. »Ja, ich glaube, daß ich mich schon als ein anderer fühle. Ich bin kräftiger geworden. Ich weiß jetzt, wo ich hingehöre, Sarah. Ich bin eben anders geworden.«
»Das meine ich auch.«
»Was soll ich tun?«
»Du wirst dieses Haus verlassen, Söhnchen.« Als sie das Erschrecken in seinen Augen sah, sprach sie schnell weiter. »Ja, du wirst das Haus verlassen, denn es ist einfach zu klein für dich. Du mußt woanders hin, du mußt der Welt zeigen und beweisen, wer du bist. Es hat sich vieles geändert. Äußerlich ist das meiste gleich geblieben, innerlich aber bist du erstarkt. In dir steckt jetzt die Kraft des Erzengels. Die Mystik der Kabbala hat vieles erreichen können.«
Er nickte, was ihm schwerfiel, weil er lag. »Und wo soll ich hingehen? Ich habe meinem Vater versprochen, dessen Nachfolger zu werden. Wenn er nicht mehr ist, will ich der Rabbiner sein.«
Sarah winkte fast wütend ab. »Das kannst du alles vergessen, Söhnchen. Was ist schon ein Rabbi im Vergleich zu einer Macht, die du mittlerweile darstellst?«
»Ich weiß nicht, aber…«
»Es ist nichts«, flüsterte sie. »Du besitzt die Kraft des Erzengels, eines mächtigen Wesens. Denke nach, daß die Erzengel so gut wie unbesiegbar sind. Sie haben sich zu Beginn der Zeit formiert, und sie werden immer sein. Ihre Seelen, ihre Geister kennen weder Entfernungen noch Räume. Sie durchstreifen das All, sie dringen ein in das Reich der Toten, sie kommen überall dorthin, was einem normalen Menschen verschlossen bleibt. Denke darüber nach.«
Nathan hatte große Augen bekommen. »Meinst du, daß auch ich es schaffen könnte?«
»Nicht nur das. Du wirst es schaffen.« Sie legte ihre Hände gegen seine Schulterrundungen und schaute ihn dabei beschwörend an.
»Du wirst es schaffen, Söhnchen.«
Er hielt dem Blick stand. Sarah erkannte, daß er nachdachte und fragte nach dem Grund.
»Etwas ist mit mir geschehen«, erwiderte er. »Etwas ist anders geworden, Sarah.«
»Das glaube ich dir sogar. Du bist zwar äußerlich noch Nathan, aber deine Seelenwelt hat sich verdreht. Sie ist umgekehrt worden. Man kann dich als Zwitter bezeichnen.«
»Vielleicht,
Weitere Kostenlose Bücher