0593 - Das Zeichen
der Rover bereits schattengleich in den Dunst getaucht…
***
Der Rabbi war in die kleine Küche gegangen. In der rechten Hand hielt er die Flasche mit Wein. Als er sie über dem Waschbecken leerte, schickte er Flüche hinterher.
»Ja, verflucht sollst du sein, du verdammtes Etwas. Ich will, daß du verflucht bist!«
Wie Blut, nur dünner, rann der Wein dem Abfluß entgegen und wurde von ihm verschluckt.
Erst als sich nur noch wenige Tropfen in der Flasche befanden, ließ der Rabbi ab. Er stellte sie weg, schaute aus dem Fenster und sah zum Eingang der Synagoge hinüber, wo das Türlicht automatisch eingeschaltet worden war.
Ein Begriff wie Hoffnung durcheilte seinen Kopf. Sollte er in die Synagoge hineingehen und für seinen Sohn beten? War es vielleicht das, was ihm helfen konnte?
Der Rabbi, der eigentlich immer Ratschläge wußte, nicht nur für sich, auch für die Mitglieder der Gemeinde, konnte sich zu keinem Entschluß durchringen.
Mit schleppenden Schritten ging er zurück in sein Arbeitszimmer, wo er hinter dem dunklen Schreibtisch seinen Platz fand und ins Leere starrte.
Gern wäre er jetzt nicht allein gewesen. Er dachte an John Sinclair, der ihm nahegelegt hatte, anzurufen, wenn er sich schlecht fühlte oder etwas passierte.
Er wollte mit ihm sprechen.
Lange klingelte es durch, nur hob beim John Sinclair niemand den Hörer ab. Nach zwei weiteren vergeblichen Versuchen fühlte sich der Rabbi einsamer als je zuvor.
Was, in aller Welt, war nur mit seinem Sohn geschehen? Gut, er selbst gab sich einen Großteil der Schuld. Er hatte den Jungen auf eine besondere Art und Weise heilen wollen, was ihm irgendwo auch gelungen war. Nur mußte er dabei etwas übersehen haben.
Nicht ohne Grund war die Mystik der Kabbala über Jahrhunderte hinweg als Geheimlehre angesehen worden. In ihr vermischten sich nicht allein die nicht niedergeschriebenen Worte der Stammväter, auch die anderen orientalischen Magien waren vertreten. Da kam das Positive zum Negativen, das Gute zum Bösen, beides stand zusammen, oftmals nur durch eine hauchdünne Grenze getrennt.
Man sollte sie nicht annehmen, dachte er. Nein, man sollte die Finger davonlassen, das war immer besser. Die Kabbala war ein Mysterium, sie sollte es auch bleiben. In der Theorie ja, aber Finger weg von der Praxis dieser immensen Kraft.
Wie konnte er es wieder gutmachen! Wie seinen Sohn zurückholen, ihm die Seele wiedergeben?
Wenn er es tatsächlich schaffte, war noch immer die Frage, ob er dann überlebte.
Er schloß die Augen, faltete die Hände. Es war am besten und gab ihm vielleicht Kraft und neuen Mut, wenn er es mit einem Gebet versuchte. Möglicherweise bekam er dann die Lösung des Problems.
Schon oft in seinem Leben hatte der Rabbi gebetet, selten so intensiv wie in den folgenden Minuten. Er war völlig versunken, hatte die Umwelt vergessen und konzentrierte sich einzig und allein auf seine geistigen Worte.
Das gelang ihm nicht sehr lange. Der Rabbi zählte zu den Menschen, die über Stunden hinweg beten konnten und dabei in eine Art Trance fielen.
Diesmal war sie sehr schnell beendet. Nach einer Folge der Konzentration wurde diese unterbrochen.
Etwas geschah…
Er wußte nicht, was ihn störte, jedenfalls hob er den Kopf und wollte dabei die Augen öffnen, als er so etwas wie einen Lufthauch spürte, der durch den Raum glitt.
Ein Hauch – mehr nicht…
Fenster und Türen waren geschlossen. Wo sollte er hergekommen sein? Daß er vorhanden war, daran gab es keinen Zweifel. Seiner Meinung nach mußte es ein Gruß aus dem Geisterreich sein.
Der Rabbi schaute nach vorn – und sah ihn!
Auf seinem Schreibtischstuhl verkrampfte er, als er das helle Etwas erkannte.
Ein Schemen, der sich vom Boden her in die Höhe drehte, dabei nicht bis zur Decke reichte, sondern dort aufhörte, wo er die Größe eines normalen Menschen erreichte.
Ein Geist, aber nicht irgendeiner, sondern der Geist oder die Seele seines Sohnes Nathan!
Der Rabbi stöhnte auf, als er sich darüber klar wurde. Er stierte nach vorn. Im ersten Moment überkam ihn ein schreckliches Gefühl, sein Kopf »platzte«, das Blut rauschte in den Ohren, eine Folge des Schocks und der noch nicht überstandenen Periode der Bewußtlosigkeit.
War es Nathans Seele? Hatte nicht Sinclair auch davon gesprochen, daß der Geist plötzlich neben ihm im Wagen saß. In einer hilflos anmutenden Geste streckte der Mann den Arm über den Schreibtisch hinweg. Es sah so aus, als wollte er den Geist
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