0595 - Der Werwolf-Dämon
unmittelbaren Nähe, der dem Jungen durch Mark und Bein ging und ihn heftig zusammenzucken ließ.
Im nächsten Moment schalt er sich einen Narren. Ein Käuzchen hatte geschrien.
Natürlich - diese Vögel waren nachtaktiv. Warum sollten sie sich also nicht auch bemerkbar machen?
Um ein Haar hätte er leise aufgelacht, als das Käuzchen abermals schrie.
Ein anderer Gedanke durchfuhr ihn. Der Totenvogel hatte geschrien. Abergläubische Menschen sagten dem Käuzchen nach, daß es den Tod eines Menschen verkünde.
»Nein«, flüsterte Philippe und sah seinen weißen Atem wie eine Nebelfahne vor dem Gesicht schweben. »Der Totenvogel schreit für Jean. Es ist schon passiert.«
Wieder raschelte es, nicht weit von ihm entfernt. Da bewegte sich tatsächlich etwas!
Die Nackenhaare des Jungen richteten sich auf. Er fühlte sich beobachtet von tausend Augen, die ihn aus dem Zwielicht der nebligen Mondnacht heraus anstarrten.
Er fröstelte.
So ähnlich muß sich Jean gefühlt haben, dachte er.
Nein! Er schüttelte sich, versuchte die beginnende Panik abzustreifen. Jean hatte nicht gewußt, was auf ihn lauerte.
Abermals das Rascheln. Diesmal von drei Seiten zugleich.
Philippe zwang sich zu einem Lächeln. Ein Werwolf konnte niemals an drei Stellen gleichzeitig auftauchen. Es mußte etwas anderes sein. Vielleicht hier ein Fuchs, da ein Marder und dort die Beute, um die sich die beiden bald streiten würden.
Oder nur ein leichter Windstoß, der das nasse, kalte Laub durcheinanderwirbelte.
Aber da war mehr Er konnte es spüren.
So, wie er die Kopfschmerzen spürte, die ihn mit einem Mal plagten.
Er war nicht allein hier. Etwas befand sich ganz in seiner Nähe.
Gehetzt sah er sich um. Nirgendwo war etwas zu sehen.
Doch das Böse war ganz nah. Zum Greifen nah. Streckte seine Fänge bereits nach ihm aus, berührte ihn beinahe -Da fuhr er herum, mit ausgestrecktem Arm, und er stieß und schnitt mit dem Dolch durch die Luft.
Vergeblich. Da war kein Ziel, das er treffen und verwunden konnte.
Da war nur das drohende Hecheln, das sich in seinen Gedanken einnistete und zum Alptraum wurde. Und das zähnefletschende Knurren.
Gellend schrie er auf.
Das Unheimliche, das Böse, hielt ihn in seinen Klauen!
***
Und ließ wieder los.
Lykandomus lockerte seinen mentalen Griff. Er pfiff das Rudel zurück, das sich bereits an das Opfer gepirscht hatte.
Nur zögernd ließen die Jäger der Nacht von ihrem Opfer ab. Aber sie gehorchten ihrem Herrn, ihrem Rudelführer.
Nachdenklich betrachtete Lykandomus den Jungen. Er wäre wirklich ein willkommenes Opfer gewesen. Beinahe hätte Lykandomus ihn getötet. Aber da hatte er in den Gedanken des Jungen etwas gesehen, das ihn zögern ließ.
Er war nicht zufällig hier.
Er war gekommen, um einen Werwolf zu jagen!
»Armer Narr«, flüsterte Lykandomus. »Wen willst du mit deinem Dolch beeindrucken? Er ist nicht einmal aus Silber! Der Gestank von Weihwasser - du hast den Dolch nur hineingetaucht, nicht wahr? Der Gestank wäre sonst intensiver! Ah - verletzen könntest du eine Kreatur der Nacht damit, aber niemals töten. Und erst recht dich nicht retten. Nicht vor mir…«
Aber der Junge suchte einen Werwolf, und er wollte ihn töten.
Es gab nur einen Menschenwolf, der dafür in Frage kam. Und das war Zia Thepin, die Abtrünnige.
Lykandomus lächelte frostig.
Warum sollte er den Feind seiner Feindin angreifen? Vielleicht nahm der Junge ihm ja einen Teil der Arbeit ab. Für die Abtrünnige mochte ein in Weihwasser getauchter Dolch gefährlich genug sein. Sie war schwach, weil sie nur wenige Opfer riß.
Später konnte Lykandomus dann beenden, was der Junge begann. Und diesen danach ebenfalls töten.
Später, nicht jetzt.
Der Dämon hatte schon immer viel von effektivem Arbeiten gehalten. Warum sich für etwas anstrengen, das andere ebensogut erledigen konnten?
Der Durst nach Menschenblut blieb dennoch.
Wir suchen ein anderes Opfer, teilte er dem Rudel mit.
Und verschwand mit den dunklen Jägern in der Nacht.
Dorthin, wo Menschen wohnten.
Warum die Sterblichen in der Wildnis jagen, wenn man sie in ihren Häusern schlagen konnte? Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zum Morgen, und Lykandomus wollte Blut für sich und sein Rudel…
***
Von einem Moment zum anderen fühlte sich Philippe wie befreit. Es war, als hätte ihn etwas losgelassen, das schon bereit gewesen war, ihn zu verschlingen.
Hätte er einen Blick nach oben geworfen, dann hätte er gesehen, wie nahe der Tod ihm
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