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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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dafür vorgebracht, daß er zwar seinen Arm wieder gebrauchen konnte, nicht aber sein Bein. »Bei einer so schweren Kopfverletzung wie der Ihren muß man mit Entwicklungsprognosen äußerst vorsichtig sein.«
    Worauf dann die Liste der »Vielleichts« folgte: Vielleicht würde er das Bein eines Tages wieder völlig ungehindert gebrauchen können. Vielleicht würde er eines Tages ohne Stöcke gehen können. Vielleicht würde er eines Morgens aufwachen und sein Bein wieder spüren, die Muskeln spannen, die Zehen bewegen, das Knie beugen können. Aber nach zwölf Jahren war das nicht wahrscheinlich. So hielt er denn an dem fest, was geblieben war, nachdem er die hartnäckige Illusion der ersten vier Jahre begraben hatte: dem Anschein der Normalität. Solange er seine Muskeln vor dem Verfall bewahren konnte, wollte er zufrieden sein und keinen Träumen nachhängen.
    Er hatte die Atrophie mit elektrischem Strom bekämpft. Daß ihn die Eitelkeit dazu trieb, hatte er nie geleugnet; hatte sich gesagt, es sei ja wohl keine Sünde, wie ein vollkommener Mensch aussehen zu wollen, auch wenn man keiner mehr war.
    Er haßte seinen ungelenken Gang, und selbst jetzt noch, nachdem er Jahre damit gelebt hatte, konnte er unter dem neugierigen Blick eines Fremden vorübergehend ins Schwitzen geraten. Anders, sagte dieser Blick, nicht so wie wir. Und wenn auch dieses körperliche Anderssein sich auf seine Invalidität beschränkte, so wurde es doch im Beisein von Fremden hundertfach verstärkt.
    Wir haben gewisse Erwartungen an andere, dachte er, während er zerstreut sein Bein betrachtete. Daß sie gehen, sprechen, sehen und hören können. Wenn sie das nicht können - oder wenn sie es auf eine Art tun, die unseren vorgefaßten Vorstellungen nicht entspricht -, nageln wir sie auf eine Rolle fest, scheuen wir vor dem Kontakt mit ihnen zurück, zwingen wir sie, Teil eines Ganzen sein zu wollen, in dem es keine Unterschiede gibt.
    Er hörte, wie das Wasser im Badezimmer abzulaufen begann. Er blickte zur Tür und fragte sich, ob dies die Wurzel der Schwierigkeiten war, die zwischen ihm und Deborah bestanden. Sie wollte das, was ihr zustand, die Norm. Er hatte schon lange aufgehört, an den Wert der Normalität zu glauben.
    Mühsam stand er auf und lauschte ihren Bewegungen. Das geräuschvolle Schwappen des Wassers verriet ihm, daß sie soeben aufgestanden war. Jetzt würde sie aus der Wanne steigen, nach einem Badetuch greifen und es sich um den Körper wickeln. Er klopfte an die Tür und öffnete sie.
    Sie war dabei, den beschlagenen Spiegel abzuwischen. Das Haar fiel ihr in feuchten lockigen Strähnen aus dem Turban, den sie sich aus einem zweiten Handtuch gedreht hatte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, und er konnte die Wassertropfen auf ihrer Haut sehen, die glatt und geschmeidig war und weich von dem Badeöl, dessen Duft den Raum erfüllte.
    Sie sah ihn im Spiegel an und lächelte. Der Ausdruck ihres Gesichts war liebevoll. »Jetzt ist es wohl wirklich und wahrhaftig aus zwischen uns.«
    »Wieso?«
    »Du bist nicht zu mir ins Bad gekommen.«
    »Du hast mich ja nicht eingeladen.«
    »Ich habe dir beim Abendessen die ganze Zeit telepathische Einladungen geschickt. Hast du sie nicht bekommen?«
    »Ach, dann war das unterm Tisch dein Fuß? Hm, wenn ich's mir jetzt überlege, hatte er mit Tommys wirklich keine Ähnlichkeit.«
    Sie lachte und schraubte ihre Gesichtsmilch auf. Er sah zu, wie sie sie in ihrem Gesicht verrieb. Muskeln arbeiteten mit den kreisenden Bewegungen ihrer Finger, und er machte eine Übung aus ihrer Identifizierung: trapezins, levator scapulae, splenius cerviscis. Es war eine Form der Disziplin, um seine Gedanken auf einer gewünschten Bahn zu halten. Die Versuchung, ein Gespräch mit Deborah auf ein andermal zu verschieben, gewann durch den Anblick der frisch dem Bad Entstiegenen stets zusätzliche Macht.
    »Es tut mir leid, daß ich die Adoptionsunterlagen mitgenommen habe«, sagte er. »Ich habe mich nicht an unsere Vereinbarung gehalten. Ich hoffte, dich dazu verleiten zu können, mit mir über das Problem zu sprechen, solange wir hier sind. Schreib es männlicher Eitelkeit zu und verzeih mir bitte.«
    »Schon verziehen«, sagte sie. »Aber es gibt kein Problem.«
    Sie schraubte die Flasche mit der Gesichtsmilch zu und begann sich mit mehr Energie als unbedingt nötig abzutrocknen. Als er das sah, wußte er, daß Vorsicht geboten war. Er sagte nichts mehr, bis sie ihren Morgenrock übergezogen und ihr Haar von dem

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