06 - Denn keiner ist ohne Schuld
stand das Gewächshaus. Seine Tür war geschlossen. Hinter den trüben Glasscheiben konnte Lynley die Gestalt einer Frau erkennen, die mit erhobenen Armen dastand und sich um eine Pflanze kümmerte, die auf Höhe ihres Kopfes hing. Er durchquerte den Garten. Seine Gummistiefel sanken in den feuchten Boden des Wegs ein, der vom Haus zum Gewächshaus führte und weiter in den Wald.
Die Tür war nur angelehnt. Der Druck eines kurzen, leichten Klopfens genügte, und sie öffnete sich lautlos. Mrs. Spence hörte offenbar weder das Klopfen, noch nahm sie das plötzliche Eindringen kühlerer Luft war; sie blieb in ihre Arbeit vertieft und bot ihm so Gelegenheit, sich umzusehen.
Die hängenden Pflanzen waren Fuchsien. Sie wuchsen in Drahtkörben, die mit irgendeinem Moos ausgekleidet waren. Sie waren für den Winter gestutzt, aber nicht all ihrer Blätter beraubt worden. Mrs. Spence war damit beschäftigt, die Blumen mit einer übelriechenden Flüssigkeit zu besprühen, wobei sie immer wieder eine Pause machte, um jeden Korb zu drehen, damit die Pflanze auch von allen Seiten gründlich behandelt wurde.
Wie sie sich da im Gewächshaus ihrer Pflanzen annahm, sah sie völlig harmlos aus. Gewiß, ihre Kopfbedeckung war ein wenig ausgefallen, aber man konnte eine Frau schließlich nicht dafür verurteilen, daß sie ein verblichenes rotes Tuch um die Stirn trug. Sie sah damit ein wenig wie eine Navajo-Indianerin aus. Und es erfüllte seinen Zweck, es hielt ihr nämlich das Haar aus dem Gesicht. Ihr Gesicht hatte Schmutzflecken, die sie weiter verschmierte, als sie sich mit der Hand, an der sie einen fingerlosen Handschuh trug, über die Wange wischte. Sie war mittleren Alters, aber mit der Konzentration eines jungen Menschen bei ihrer Arbeit, und Lynley, der sie beobachtete, fiel es schwer, von ihr als Mörderin zu denken.
Die Tatsache flößte ihm Unbehagen ein. Sie zwang ihn, nicht nur die Fakten zu bedenken, die er bereits hatte, sondern auch jene, die sich zu zeigen begannen, während er an der Tür stand. Das Gewächshaus enthielt ein buntes Allerlei von Pflanzen. Sie standen in Ton- und Plastiktöpfen auf einem langen Tisch in der Mitte. Sie reihten sich auf den beiden Arbeitstischen, die sich an den Seitenwänden des Gewächshauses erstreckten. Und während er sich umsah, fragte sich Lynley, wie genau Colin Shepherd seine Untersuchung hier drinnen durchgeführt hatte.
Juliet Spence wandte sich von der letzten Hängefuchsie ab. Sie fuhr zusammen, als sie ihn sah. Mit der rechten Hand griff sie sich instinktiv an den losen Rollkragen ihres schwarzen Pullovers, eine weibliche Geste der Abwehr. In der linken Hand jedoch hielt sie noch immer die Sprühpumpe. Sie war offensichtlich geistesgegenwärtig genug, sie nicht abzustellen, da sie sie doch notfalls gegen ihn einsetzen konnte.
»Was wollen Sie?«
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich habe geklopft. Sie haben mich nicht gehört. Inspector Lynley, New Scotland Yard.«
»Ich verstehe.«
Er wollte seinen Dienstausweis herausholen. Sie winkte ab und zeigte dabei ein großes Loch unter der Achsel ihres Pullovers.
»Nicht nötig«, sagte sie. »Ich glaube Ihnen. Colin hat mir schon gesagt, daß Sie wahrscheinlich heute morgen vorbeikommen würden.«
Sie stellte die Pumpe auf den Arbeitstisch zwischen die Pflanzen und befühlte die noch verbliebenen Blätter der ihr am nächsten hängenden Fuchsie. Er konnte sehen, daß sie zerfressen waren. »Capsiden«, sagte sie erklärend. »Sie sind heimtückisch. Wie Blasenfüßer. Im allgemeinen merkt man erst, daß sie die Pflanze überfallen haben, wenn der Schaden sichtbar wird.«
»Ist das nicht immer so?«
Sie schüttelte den Kopf. »Manchmal hinterläßt ein Schädling eine Visitenkarte. Manchmal merkt man erst, daß er da war, wenn es zu spät ist, etwas anderes zu tun, als ihn zu töten und zu hoffen, daß die Pflanze nicht auch gleich stirbt. Aber mit Ihnen sollte ich wohl lieber nicht übers Töten sprechen, als machte es mir Spaß, auch wenn es so ist.«
»Vielleicht muß ein Geschöpf, das die Ursachen für die Vernichtung eines anderen ist, getötet werden.«
»Der Meinung bin ich auf jeden Fall. Blattläuse habe ich in meinem Garten noch nie mit offenen Armen aufgenommen.«
Er wollte ins Gewächshaus treten. Sie sagte: »Zuerst da hinein bitte«, und wies auf eine flache Plastikschale mit einem grünen Puder, die gleich neben der Tür stand. »Ein Desinfektionsmittel«, erklärte sie. »Zum Abtöten von
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