06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Kraft dem anderen Haushaltsmüll zugesellen konnte. Als das nicht geschah, nahm sie sich vor, ihn später zur Tonne zu tragen.
Sie zündete sich eine Zigarette an. Der Geruch des Streichholzes und des brennenden Tabaks überdeckten den noch im Raum hängenden ekelhaften Gestank nach verfaulten Lebensmitteln. Sie zündete ein zweites Streichholz an und dann ein drittes und sog die ganze Zeit den Rauch der Zigarette so tief wie möglich ein.
War doch ganz gut, dachte sie; zwar habe ich kein Abendessen, dafür hab ich aber wieder etwas erledigt. Jetzt brauchte sie den Kühlschrank nur noch auszuwischen, dann konnte sie ihn verkaufen, nicht mehr ganz neu vielleicht, nicht mehr ganz zuverlässig, aber entsprechend preiswert. Nach Chalk Farm konnte sie ihn nicht mitnehmen - in der Wohnung hatte höchstens ein Minikühlschrank Platz -, deshalb mußte sie ihn loswerden, früher oder später. Wenn sie so weit war, daß sie umziehen konnte.
Sie ging zum Tisch und setzte sich. Die Stuhlbeine schrammten geräuschvoll über den klebrigen alten Linoleumboden. Sie drehte die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und sah zu, wie das Papier um den rotglühenden Tabak langsam verbrannte. Bei dieser unvorgesehenen Reinigung des Kühlschranks war wieder einmal, das wußte sie, ihre Gespaltenheit zu Tage getreten. Wieder war eine Arbeit erledigt, wieder konnte sie einen Punkt von der Liste streichen, wieder war der Hausverkauf und damit der Umzug in ein neues, unbekanntes Leben einen Schritt näher gerückt.
Es gab Tage, da fühlte sie sich zum Umzug bereit, und andere, an denen sie vor der Veränderung, die er bedeutete, eine unerklärliche Angst empfand. Ein halbes dutzendmal war sie schon in Chalk Farm gewesen, sie hatte die Kaution für die kleine Wohnung bezahlt, sie hatte mit dem Hauswirt gesprochen und den Anschluß eines Telefons veranlaßt. Sie hatte sogar ganz flüchtig einen ihrer neuen Hausgenossen gesehen, der am Fenster seiner Erdgeschoßwohnung in der Sonne gesessen hatte. Während dieser Teil ihres Lebens - mit der Überschrift Zukunft - sie stetig vorwärtszog, hielt der andere, größere Teil - mit der Überschrift Vergangenheit - sie an Ort und Stelle fest. Sie wußte, daß es kein Zurück gab, wenn dieses Haus in Acton erst einmal verkauft war. Eines der letzten Bande zu ihrer Mutter würde dann durchtrennt sein.
Barbara hatte den Morgen mit ihr verbracht. Sie waren zum kleinen Gemeindepark von Greenford spaziert und hatten sich dort auf eine der Bänke am Spielplatz gesetzt und einer jungen Frau zugesehen, die ihr lachendes kleines Kind auf dem Karussell gedreht hatte. Ihre Mutter hatte einen ihrer guten Tage gehabt. Sie erkannte Barbara, und obwohl sie sich dreimal versprach und Barbara Pearl nannte, widersprach sie nicht, als Barbara sie behutsam daran erinnerte, daß Tante Pearl seit fast fünfzig Jahren tot war. Sie sagte nur mit einem zaghaften Lächeln: »Ich vergesse so leicht, Barbie. Aber heute geht's mir gut. Kann ich bald nach Hause?«
»Gefällt es dir denn hier nicht?« fragte Barbara. »Mrs. Flo hat dich doch gern. Und du verstehst dich doch mit Mrs. Pendlebury und Mrs. Salkild, nicht wahr?«
Ihre Mutter scharrte mit den Füßen und streckte dann die Beine aus wie ein Kind. »Mir gefallen meine neuen Schuhe, Barbie«, sagte sie.
»Dann hab ich's ja richtig getroffen.«
Es waren lavendelfarbene Baseballstiefel mit silbernen Streifen an den Seiten. Barbara hatte sie auf dem Wühltisch eines Warenhauses gefunden. Sie hatte sich ein Paar in Rot und Gold gekauft - erheitert von der Vorstellung, welch entsetztes Gesicht Inspector Lynley bei ihrem Anblick machen würde -, und obwohl sie in der Größe ihrer Mutter keine gehabt hatten, hatte sie die lavendelfarbenen gekauft, weil sie am unmöglichsten waren und ihr daher am ehesten gefallen würden. Sie hatte zwei Paar Wollsocken dazu gekauft, die ihre Mutter überziehen konnte, um in den Schuhen nicht herumzurutschen. Lächelnd hatte sie zugesehen, mit welcher Erwartungsfreude ihre Mutter das Paket ausgepackt und im Seidenpapier nach ihrer »Überraschung« gesucht hatte.
Barbara hatte sich angewöhnt, immer eine kleine Überraschung mitzubringen, wenn sie zweimal in der Woche nach Hawthorn Lodge hinausfuhr, wo ihre Mutter seit zwei Monaten mit zwei alten Frauen bei Mrs. Florence Magentry - Mrs. Flo, die sich um sie kümmerte - lebte. Barbara versuchte sich einzureden, sie täte es nur, um ihrer Mutter eine Freude zu bereiten. Aber sie wußte,
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