06 - Denn keiner ist ohne Schuld
daß jedes Päckchen ihr dazu diente, sich von Schuld freizukaufen. »Es gefällt dir doch hier bei Mrs. Flo, nicht wahr, Mama?«
Doris Havers beobachtete das kleine Kind auf dem Karussell. Sie wiegte sich zu irgendeiner inneren Melodie. »Mrs. Salkild hat gestern abend in die Hose gemacht«, teilte sie Barbara in vertraulichem Ton mit. »Aber Mrs. Flo ist nicht mal böse geworden, Barbie. Sie hat nur gesagt: ›So was kommt vor, Schätzchen, wenn wir älter werden. Machen Sie sich also keinen Kummer deswegen.‹ Aber ich hab nicht in die Hose gemacht.«
»Das ist gut, Mama.«
»Ich hab geholfen. Ich hab den Waschlappen geholt und die Plastikschüssel, und ich hab sie so gehalten, daß Mrs. Flo sie saubermachen konnte. Mrs. Salkild hat geweint. Sie hat immer wieder gesagt: ›Es tut mir leid. Ich hab's nicht gemerkt. Ich hab's gar nicht gemerkt.‹ Sie hat mir leid getan. Ich hab ihr hinterher von meinen Pralinen gegeben. Ich hab nicht in die Hose gemacht, Barbie.«
»Du bist Mrs. Flo eine große Hilfe, Mama. Ohne dich käme sie wahrscheinlich gar nicht zurecht.«
»Ja, das sagt sie, nicht wahr? Sie wird traurig sein, wenn ich wieder gehe. Komm ich heute nach Hause?«
»Nein, heute noch nicht, Mama.«
»Aber bald?«
»Aber nicht heute.«
Barbara fragte sich manchmal, ob es nicht besser wäre, ihre Mutter einfach der Obhut der fähigen Mrs. Flo zu überlassen, ihren Unterhalt zu bezahlen und zu verschwinden, in der Hoffnung, daß ihre Mutter mit der Zeit vergessen würde, daß sie ganz in der Nähe eine Tochter hatte. Wenn sie über den Sinn dieser Besuche nachdachte, fiel sie stets von einem Extrem ins andere. Einmal glaubte sie, sie dienten einzig der Beschwichtigung ihrer persönlichen Schuldgefühle auf Kosten der inneren Ruhe ihrer Mutter, dann wieder sagte sie sich, ihr regelmäßiges Auftauchen würde den völligen geistigen Verfall ihrer Mutter verhindern. Es gab, soviel Barbara wußte, zu diesem Dilemma keinerlei Literatur. Und selbst wenn sie versucht hätte, welche zu finden - was hätten ihr die Theorien irgendeines Sozialwissenschaftlers bringen können, der aus seiner Distanz heraus gut reden hatte? Dies war schließlich ihre Mutter. Sie konnte sie nicht einfach im Stich lassen.
Barbara drückte ihre Zigarette im Aschenbecher auf dem Küchentisch aus und zählte die Kippen, die sich bereits angesammelt hatten. Achtzehn Zigaretten hatte sie seit heute morgen geraucht. Sie mußte aufhören. Diese Raucherei war ungesund und ekelhaft. Sie zündete sich eine neue Zigarette an.
Von ihrem Stuhl aus konnte sie durch den Korridor bis zur Haustür sehen. Sie konnte rechts die Treppe sehen und links das Wohnzimmer. Unmöglich zu ignorieren, wie weit die Renovierung des Hauses bereits fortgeschritten war. Die Wände waren gestrichen. Neuer Teppich war gelegt worden. Die Installationen in Bad und Küche waren repariert oder ersetzt worden. Herd und Backofen waren sauberer als die letzten zwanzig Jahre. Nur das Linoleum mußte neu verlegt werden, und es fehlten noch Tapeten. Wenn diese beiden Dinge erledigt waren, konnte Barbara sich dem Äußeren des Hauses und dem Garten zuwenden.
Der Garten hinten war ein einziger Alptraum, der Garten vorn existierte nicht mehr. Und das Haus selbst brauchte grundlegende Reparaturen: Regenrinnen mußten ersetzt werden, Fenster- und Türrahmen gestrichen, Fenster geputzt, die vordere Haustür neu lackiert werden. Obwohl ihre Ersparnisse rapide schrumpften und ihre Zeit wegen ihrer beruflichen Tätigkeit begrenzt war, ging alles nach Plan, wenn auch langsam, vorwärts. Falls sie also nicht etwas unternahm, um den Gang der Dinge zu bremsen, würde sie sehr bald allein und ohne Haus dastehen.
Barbara wünschte sich diese Selbständigkeit, sagte sie sich jedenfalls. Sie war dreiunddreißig Jahre alt und hatte nie ein eigenes Leben, unabhängig von Familie und deren niemals endenden Bedürfnissen, geführt. Daß sie dies nun würde tun können, hätte eigentlich ein Grund zum Jubeln sein müssen; zum Jubel über die Befreiung aus der Knechtschaft. Aber aus irgendeinem Grund wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen, genaugenommen seit jenem Tag nicht mehr, als sie ihre Mutter nach Greenford gefahren und einem neuen, geordneten Leben bei Mrs. Flo übergeben hatte.
Mrs. Flo hatte ihnen einen Empfang bereitet, der eigentlich alle Zweifel und Sorgen hätte beiseite wischen müssen. Am Geländer der schmalen Treppe hing ein Willkommensschild, und im Vorsaal waren Blumen. Oben,
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