06 - Denn keiner ist ohne Schuld
unzählige Eselsohren, so daß an manchen Stellen ihre Ecken zerfielen. Juliet hob das Buch auf und legte es auf ihren Schoß. Auf die erste Seite hatte sie mit großen Druckbuchstaben geschrieben Wichtige Ereignisse in Maggies Leben. Juliet konnte fühlen, daß die meisten Seiten beklebt waren. Sie hatte das Album nie zuvor durchgesehen - es wäre ihr wie ein unbefugtes Eindringen in Maggies kleine geheime Welt vorgekommen -, aber jetzt sah sie hinein, weniger aus Neugier als aus dem Bedürfnis, ihre Tochter zu verstehen.
Der erste Teil enthielt Erinnerungen aus der Kindheit: die Zeichnung einer großen Hand, in die eine kleinere hineingezeichnet war, darunter die Worte Mom und ich; ein phantasievoller Aufsatz mit dem Titel Mein Hund Fred, zu dem die Lehrerin geschrieben hatte: »Das muß ja wirklich ein lieber Hund sein, Margaret«; das Programm für eine Weihnachtsfeier, bei der Maggie im Chor mitgesungen hatte; eine Urkunde für den zweiten Preis bei einem Naturkundewettbewerb; und zahllose Fotos und Postkarten von ihren gemeinsamen Campingurlauben auf den Hebriden, auf Holy Island, weitab von der Welt im Lake District. Juliet blätterte langsam, zeichnete mit der Fingerspitze die kleine Hand nach, studierte jedes Foto, das das Gesicht ihrer Tochter zeigte. Dies war die reale Geschichte ihres gemeinsamen Lebens, eine Zusammenstellung, die erzählte, was ihr und ihrer Tochter auf Sand aufzubauen gelungen war.
Der zweite Teil des Albums jedoch zeugte von dem Preis eben dieser gemeinsamen Geschichte. Er enthielt eine Sammlung Zeitungsausschnitte und Zeitschriftenartikel über Autorennen. Eingestreut waren Fotografien von Männern. Zum erstenmal sah Juliet, daß die Bemerkung Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, Herzchen in Maggies Augen heroische Ausmaße angenommen hatte, und Juliets Weigerung, über das Thema zu sprechen, einen Vater hatte wachsen lassen, den Maggie lieben konnte. Ihre Väter waren die Sieger von Indianapolis, Monte Carlo und Le Mans. Sie sprangen auf einer Rennbahn in Italien aus einem brennenden Wagen und gingen hocherhobenen Hauptes davon. Reifen platzten ihnen, sie hatten Zusammenstöße, sie ließen Champagnerkorken knallen und winkten mit Trophäen. Alle waren sie lebendig.
Juliet schloß das Album und legte die Hände auf seinen Umschlag. Es geht immer nur um Schutz und Geborgenheit, sagte sie im Geist zu Maggie. Wenn du einmal Mutter bist, Maggie, dann wirst du wissen, daß es das Schlimmste ist, ein Kind zu verlieren. Alles andere kann man ertragen, und meistens muß man es auch irgendwann ertragen - daß man seine Habe verliert, sein Heim, die Arbeit, den Geliebten, den Ehemann. Aber ein Kind zu verlieren, das bringt einen um. Und darum vermeidet man jedes Risiko, das einen solchen Verlust verursachen könnte.
Du weißt das noch nicht, mein Kind, weil du noch nicht diesen Moment erlebt hast, wenn mit dem schiebenden, stoßenden Druck deiner Muskeln und dem Drang, auszustoßen und zu schreien zugleich, dieses kleine Bündel Mensch hervorgebracht wird, das dann schreiend und atmend auf deinem Bauch liegt, nackt auf deiner Haut, abhängig von dir, blind noch, mit winzigen Händen, instinktiv zu greifen versuchend. Und wenn du einmal diese kleinen Finger um einen deiner eigenen geschlossen hast - nein, nicht erst dann -, wenn du einmal dieses Leben betrachtest, das du geschaffen hast, dann weißt du, daß du alles tun und alles erleiden wirst, um es zu beschützen. Größtenteils beschützt du es natürlich um seinetwillen, weil es Schutz braucht. Aber zum Teil beschützt du es auch um deiner selbst willen.
Und das ist die schwerste meiner Sünden, Maggie, mein Liebes. Ich habe den Prozeß umgekehrt und habe gelogen, als ich es tat, weil ich die Ungeheuerlichkeit des Verlusts nicht ertragen konnte. Aber jetzt sage ich die Wahrheit, ich sage sie dir, hier und jetzt. Was ich getan habe, das habe ich zum Teil für dich getan, meine Tochter. Aber was ich vor vielen Jahren getan habe, das tat ich vor allem für mich selbst.
22
»Ich finde nicht, daß wir schon anhalten sollten, Nick«, sagte Maggie so bestimmt, wie sie es eben fertigbrachte. Der Kiefer tat ihr weh, weil sie die ganze Zeit die Zähne fest zusammengebissen hatte, damit sie nicht vor Kälte aufeinanderschlugen, und ihre Fingerspitzen waren schon taub, obwohl sie die Hände in den Taschen fast den ganzen Weg zusammengeballt hatte. Sie war müde vom Marschieren und spürte ihre Muskeln, die das Springen hinter
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