06 - Denn keiner ist ohne Schuld
klang ängstlich.
Maggie konnte nicht verstehen, wie das hatte geschehen können, denn wieder hatten sich die Machtverhältnisse geändert, und noch dazu das Schlimmste war geschehen: Sie war allein mit ihrer Mutter, ohne eine Möglichkeit, entkommen zu können. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Tränen an.
Juliet trat zurück. »Komm mit rein, Maggie«, sagte sie. »Es ist kalt. Du zitterst.«
Sie ging zum Haus.
Maggie hob den Kopf. Sie trieb im Nichts. Nick war fort, und ihre Mutter entfernte sich von ihr. Nichts war mehr da, an dem man sich festhalten konnte. Das Schluchzen brach sich Bahn. Ihre Mutter blieb stehen.
»Sprich mit mir«, sagte Juliet. Ihre Stimme schwankte. Sie klang verzweifelt. »Du mußt mit mir reden. Du mußt mir sagen, was passiert ist. Du mußt mir sagen, warum du weggelaufen bist. Solange du nicht mit mir sprichst, können wir keine Lösung finden.«
Sie standen weit auseinander, Juliet auf der Türschwelle, Maggie im Hof. Maggie war es, als trennten sie Meilen. Sie wollte näher kommen, aber sie wußte nicht, wie. Sie konnte das Gesicht ihrer Mutter nicht klar genug erkennen, um festzustellen, was sie erwartete. Sie wußte nicht, ob das Zittern in der Stimme ihrer Mutter Schmerz oder Wut war.
»Maggie, Liebling. Bitte.«
Juliets Stimme brach. »Sprich mit mir. Ich bitte dich.«
Die Qual ihrer Mutter - sie schien so echt - riß ein kleines Loch in Maggies Herz. Sie sagte mit einem Schluchzen: »Nick hat versprochen, daß er für mich sorgen würde, Mom. Er hat gesagt, daß er mich liebt. Er hat gesagt, ich wäre was Besonderes, wir wären beide was Besonderes, aber er hat gelogen, und dann hat er seinen Vater angerufen, damit der uns holt, und hat mir gar nichts davon gesagt, und ich hab die ganze Zeit geglaubt.«
Sie weinte. Sie wußte schon längst nicht mehr, was die eigentliche Quelle ihres Kummers war. Außer daß sie nicht wußte, wohin, und keinen Menschen hatte, dem sie vertrauen konnte. Obwohl sie doch so dringend jemanden brauchte, einen Anker, ein Zuhause.
»Ach, das tut mir leid, meine Kleine.«
So viel Güte in diesen wenigen Worten. Diesen Klang in den Ohren, war es leichter fortzufahren.
»Er hat so getan, als könnte er die Hunde zähmen, als hätte er die Decken ganz zufällig gefunden und.«
Die ganze Geschichte sprudelte heraus. Von dem Polizeibeamten aus London, dem Tuscheln, dem Flüstern, dem Klatsch. Und schließlich: »Und da hatte ich eben Angst.«
»Wovor?«
Maggie konnte es nicht in Worte fassen. Sie stand im Hof, und der Nachtwind pfiff durch ihre schmutzigen Kleider, und sie konnte nicht vor und nicht zurück. Weil es kein Zurück gab, wie sie sehr wohl wußte. Und weil Vorwärtsgehen Vernichtung bedeutete.
Aber offenbar brauchte sie nirgendwohin zu gehen, denn Juliet sagte: »Mein Gott, Maggie«, und schien schon alles zu wissen. Sie sagte: »Wie konntest du je glauben. Du bist mein Leben. Du bist alles, was ich habe. Du bist.«
Den Kopf zum Himmel erhoben, die Fäuste auf ihre Augen gedrückt, lehnte sie sich an den Türpfosten. Sie begann zu weinen.
Es war ein schreckliches Geräusch, als risse ihr jemand die Eingeweide heraus. Es war leise und häßlich. Es machte ihren Atem stocken. Es klang wie Sterben.
Nie zuvor hatte Maggie ihre Mutter weinen sehen. Es machte ihr angst. Sie starrte ihre Mutter an und wartete, die Hände in ihren Mantel gekrallt, denn ihre Mutter war doch die Starke, war die, die immer wußte, was zu tun war. Aber jetzt erkannte Maggie, daß ihre Mutter im Schmerz gar nicht so anders war als sie. Sie ging zu ihr. »Mom?«
Juliet schüttelte den Kopf. »Ich kann es jetzt nicht wiedergutmachen. Ich kann nichts ändern. Jetzt nicht. Das schaff ich nicht. Bitte mich nicht darum.«
Mit einer heftigen Bewegung wandte sie sich vom Türpfosten ab und ging ins Haus. Wie betäubt folgte Maggie ihr in die Küche und sah, wie sie sich an den Tisch setzte und ihr Gesicht in die Hände vergrub.
Maggie wußte nicht, was sie tun sollte, deshalb setzte sie Wasser auf und huschte in der Küche umher, um den Tee zu richten. Als sie ihn fertig hatte, hatte Juliet aufgehört zu weinen, aber im harten Licht der Deckenlampen sah sie alt und krank aus. Ihre Augen waren von Falten umgeben. Ihr Gesicht war grau, voll roter Flecken. Das Haar hing ihr strähnig um das Gesicht. Sie nahm eine Papierserviette aus dem Metallständer und schneuzte sich damit. Sie nahm noch eine und tupfte sich das Gesicht ab.
Das Telefon läutete. Maggie rührte
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