06 - Denn keiner ist ohne Schuld
begabt, da sie das Kind einer Hexe war, im magischen Kreis gezeugt - aufgehört hatte, der Sonne zu huldigen, und sich statt dessen an Saturn gewandt hatte. Schwarz gekleidet und in Wolken duftenden Weihrauchs gehüllt, hatte Polly Eichenholz verbrannt und um Annies Tod gebetet. Sie hatte sich eingeredet, das Ende eines Lebens, wenn das erduldete Leiden lang und schwer gewesen sei, könnte sogar ein Segen sein. So hatte sie das Böse gerechtfertigt und dabei doch die ganze Zeit gewußt, daß die Göttin Böses nicht ungestraft lassen würde.
Heute nun hatte die Göttin ihren Zorn auf sie herabgelassen. Und sie hatte Polly auf eine Weise gestraft, die genau der begangenen Sünde entsprach: Sie hatte Colin nicht in Liebe gesandt, sondern in Lüsternheit und Gewalt und so den Zauber in dreifacher Stärke gegen die Urheberin gewendet. Wie einfältig, auch nur einen Moment lang zu glauben, Juliet Spence sei die von der Göttin gewollte Strafe. Colin und Juliet zusammen sehen und erkennen zu müssen, was sie einander waren, das war nichts weiter gewesen als ein Vorgeschmack der wahren Demütigung.
Jetzt war es vorbei. Schlimmeres konnte ihr nicht widerfahren, es sei denn der Tod. Und da sie schon jetzt halbtot war, erschien ihr selbst der nicht mehr so schrecklich.
»Polly? Herzenskind? Was treibst du eigentlich?«
Polly öffnete die Augen und stand so schnell auf, daß das Wasser über den Badewannenrand schwappte. Sie starrte auf die Badezimmertür. Dahinter konnte sie den pfeifenden Atem ihrer Mutter hören. Rita stieg die Treppe im allgemeinen nur einmal am Tag hinauf - um zu Bett zu gehen -, und da sie niemals vor Mitternacht nach oben kam, hatte Polly angenommen, sie wäre sicher, als sie bei ihrer Heimkehr gerufen hatte, sie wolle kein Abendessen, und gleich ins Badezimmer hinaufgelaufen war. Jetzt antwortete sie nicht. Sie griff nach einem Badetuch. Wieder schwappte Wasser über den Rand.
»Polly! Sitzt du denn immer noch in der Wanne? Hab ich das Wasser nicht lang vor dem Essen laufen hören?«
»Ich bin eben erst rein, Rita.«
»Eben erst? Ich hab doch das Wasser laufen hören, gleich nachdem du nach Hause kamst. Das war vor mehr als zwei Stunden. Also sag schon, was ist los, Herzenskind?«
Rita kratzte mit ihren langen Fingernägeln an der Tür. »Polly?«
»Nichts.«
Polly wickelte sich in das Badetuch und stieg aus der Wanne. Es kostete sie Anstrengung, die Beine zu heben.
»Mach mir doch nichts vor! Hygiene in allen Ehren, aber du treibst's mir schon ein bißchen weit. Los, was gibt's? Machst du dich vielleicht für irgendeinen Kerl schön, der heut nacht bei dir einsteigen will? Triffst du dich mit einem? Willst du ein paar Spritzer von meinem Parfüm?«
»Ich bin ganz einfach müde. Ich geh schlafen. Geh du wieder runter zum Fernseher, einverstanden?«
»Nein.«
Sie klopfte von neuem. »Was ist denn nur los? Geht's dir nicht gut?«
Polly rubbelte sich die Beine mit dem Badetuch. »Mir geht's gut, Rita.«
Sie versuchte, sich den Umgangston ins Gedächtnis zu rufen, der zwischen ihr und ihrer Mutter üblich war, um ihr möglichst normal zu antworten. War sie schon leicht gereizt durch Ritas Fragen? Zeigte ihre Stimme Ungeduld? Sie konnte sich nicht erinnern. Sie entschied sich für ruhige Freundlichkeit. »Geh ruhig wieder runter. Läuft jetzt nicht gerade deine Krimiserie? Schneid dir doch ein Stück von dem Kuchen ab. Und mir auch gleich eins, und laß es mir auf der Arbeitsplatte stehen.«
Sie wartete auf eine Antwort, das Schlurfen und Keuchen, das Ritas Abgang begleiten würde, aber aus dem Flur war kein Laut zu hören. Mißtrauisch beobachtete Polly die Tür. Dort, wo ihre Haut feucht und unbedeckt war, war ihr kalt, aber sie hätte es jetzt nicht geschafft, das Badetuch abzunehmen, um ihren restlichen Körper abzutrocknen, und ihn dabei erneut ansehen zu müssen.
»Kuchen?« sagte Rita endlich.
»Ich eß vielleicht auch ein Stück.«
Der Türknauf klapperte. Ritas Stimme war scharf. »Mach auf, Kind. Du hast seit fünfzehn Jahren keinen Kuchen mehr gegessen. Da stimmt doch was nicht, und ich möchte wissen, was los ist.«
»Rita...«
»Wir machen hier keine Versteckspiele, Herzenskind. Wenn du nicht vorhast, aus dem Fenster zu klettern, machst du die Tür am besten gleich auf, weil ich hier nämlich so lange stehenbleiben werde, bis du rauskommst.«
»Bitte. Es ist nichts.«
Das Klappern des Türknaufs wurde lauter. Die Tür selbst wackelte scheppernd. »Muß ich vielleicht erst
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