06 - Denn keiner ist ohne Schuld
weibliche Leiche angespült wurde, damit er dann behaupten konnte, es handle sich um Rebecca, die bei einem Sturm mit ihrem Boot verschollen war.«
»Armes Ding.«
»Wer?«
Helen tippte sich mit dem Finger nachdenklich an die Wange. »Ja, das ist das Problem, nicht wahr? Wir sollen mit einer Person mitleiden, aber es kommt einem schon ein bißchen schlecht vor, sich auf die Seite eines Mörders zu schlagen.«
»Rebecca war zügellos, sie hatte kein Gewissen. Wir sollten den Mord als entschuldbare Handlung sehen.«
»Und war er das? Ist das ein Mord jemals?«
»Das ist die Frage«, erwiderte er.
Sie traten in den Lift und fuhren schweigend aufwärts. Auf seiner Rückfahrt in die Stadt hatte es zu regnen angefangen. In einem Verkehrsstau in Blackheath steckend, hatte er beinahe die Hoffnung aufgegeben, je auf die andere Seite der Themse zu kommen. Dennoch hatte er es geschafft, um sieben am Onslow Square zu sein, um Viertel nach acht hatten sie sich im Green's zum Abendessen gesetzt, und jetzt, zwanzig Minuten vor elf, waren sie auf dem Weg in sein Büro, um zu sehen, was Barbara Havers ihm aus Truro gefaxt hatte.
Zwischen ihnen bestand ein wortloser Waffenstillstand. Sie hatten über das Wetter gesprochen, über die Entscheidung seiner Schwester, ihr Land und ihre Schafherden in West Yorkshire zu verkaufen und in den Süden zurückzukehren, um in der Nähe seiner Mutter sein zu können, und über eine Winslow-Homer-Ausstellung, die bald nach London kommen würde. Er spürte, wie sehr sie darum bemüht war, ihn auf Abstand zu halten, und er half ihr dabei, ohne darüber besonders glücklich zu sein. Aber er wußte, daß er mit Geduld mehr Aussicht hatte, ihr Vertrauen zu gewinnen, als mit Konfrontation.
Die Aufzugtüren öffneten sich, selbst New Scotland Yard schien um diese Zeit wie ausgestorben. Doch zwei von Lynleys Kollegen standen an der Tür zu einem der Büros, tranken Kaffee aus Plastikbechern, rauchten und unterhielten sich über den letzten Minister, der mit heruntergelassener Hose hinter dem King's Cross Bahnhof, wo die Straßenmädchen ihre Waren feilboten, ertappt worden war. »Da bumst der Idiot irgend so ein Flittchen, während England zum Teufel geht«, bemerkte Phillip Hale finster. »Was ist mit diesen Kerlen eigentlich los?«
John Stewart schnippte Zigarettenasche auf den Boden. »Na, mit so einer Puppe im Lederrock eine Nummer zu schieben ist bestimmt lustiger, als über dem Haushaltsdefizit zu brüten.«
»Aber das war ja nicht einmal ein Callgirl. Das war ein billiges Strichmädchen. Mensch, John, du hast sie doch
gesehen.«
»Ja, und seine Frau hab ich auch gesehen.«
Die beiden Männer lachten. Lynley warf Helen einen Blick zu. Ihre Miene war unergründlich. Er führte sie mit einem Nicken an seinen Kollegen vorbei.
»Sind Sie nicht im Urlaub?« rief Hale ihnen nach.
»Wir sind in Griechenland«, antwortete Lynley.
In seinem Büro zog er seinen Mantel aus und hängte ihn an der Tür auf. Er wartete auf ihre Reaktion. Aber sie sagte nichts über das kurze Gespräch, das sie gehört hatte.
»Glaubst du, daß Robin Sage sie getötet hat, Tommy?«
»Es war Nacht und stürmische See. Niemand hat gesehen, daß seine Frau sich von der Fähre stürzte, niemand konnte seine Behauptung bestätigen, er sei, als er den Salon verließ, nur in die Bar gegangen, um etwas zu trinken.«
»Aber er, ein Geistlicher! So etwas zu tun und danach weiterhin sein Amt zu versehen, als wäre nichts geschehen.«
»Genau das hat er ja nicht getan. Er hat seine Position in Truro unmittelbar nach dem Tod seiner Frau aufgegeben. Er hat eine ganz andere Art der Seelsorge übernommen und sich an Orte versetzen lassen, wo ihn keiner kannte.«
»Weil er etwas zu verbergen hatte, meinst du? Weil den Leuten, die ihn ja nicht kannten, sein eventuell verändertes Verhalten nicht aufgefallen wäre?«
»Möglich.«
»Aber warum hätte er sie überhaupt töten sollen? Was wäre sein Motiv gewesen? Eifersucht? Zorn? Rache? Eine Erbschaft?«
Lynley griff zum Telefon. »Mir scheint, es gibt da drei Möglichkeiten. Sie hatten sechs Monate zuvor ihr einziges Kind verloren.«
»Aber du hast doch gesagt, es war plötzlicher Kindstod.«
»Vielleicht hat er sie dafür verantwortlich gemacht. Es kann auch sein, daß er eine Beziehung zu einer anderen Frau hatte und wußte, daß er als Geistlicher, wenn er sich scheiden ließ, keine Karriere mehr zu erwarten hatte.«
»Oder aber sie hatte eine Beziehung zu einem anderen
Weitere Kostenlose Bücher