06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Er wies auf das Kruzifix auf dem Lettner. »Wenn die letzten Worte unseres Herrn Jesus lauteten Vergib ihnen, Vater, und wenn sein Vater in der Tat vergeben hat - und daran gibt es keinen Zweifel -, warum sollte er dann nicht auch dir vergeben können? Ganz gleich, was für eine Sünde du begangen haben magst, Kind, sie kann niemals so schlimm sein wie der Tod von Gottes Sohn, was meinst du?«
»Nein«, flüsterte sie, obwohl sie zu weinen angefangen hatte. »Aber ich habe gewußt, daß es unrecht war, und hab's trotzdem getan, weil ich wollte.«
Er zog ein Taschentuch heraus und reichte es ihr. »Das ist die Natur der Sünde. Wir sind in Versuchung, wir können wählen, und wir wählen unklug. Da bist du nicht die einzige. Aber wenn du in deinem Herzen entschlossen bist, nicht wieder zu sündigen, dann verzeiht Gott dir. Siebzig mal siebenmal. Darauf kannst du bauen.«
Aber eben die Entschlossenheit im Herzen war ihr Problem. Sie wollte ja gern das Versprechen geben. Sie wollte so gern an ihr Versprechen glauben. Aber leider war ihr Verlangen nach Nick noch stärker.
»Das ist es ja gerade«, sagte sie. Und dann erzählte sie dem Pfarrer alles.
»Meine Mutter weiß es«, schloß sie, während sie sein Taschentuch fältelte und es wieder auseinanderzog. »Meine Mutter ist furchtbar böse auf mich.«
Der Pfarrer senkte den Kopf. Er schien die verblichene Stickerei auf den Kniekissen zu begutachten. »Wie alt bist du, mein Kind?«
»Dreizehn«, antwortete sie.
Er seufzte. »Guter Gott.«
Neue Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie tupfte sie weg und sagte stockend: »Ich bin böse. Ich weiß es. Ja, ich weiß es. Und Gott weiß es auch.«
»Nein. Das ist es nicht.«
Er legte flüchtig seine Hand auf die ihre. »Was mich bekümmert, ist dieser Drang, erwachsen zu werden. Diese Bereitschaft, so früh schon so viel Kummer auf sich zu nehmen.«
»Aber für mich ist es doch kein Kummer.«
Er lächelte sanft. »Nein?«
»Ich liebe ihn. Und er liebt mich.«
»Ja, und da fängt der Kummer im allgemeinen an, nicht wahr?«
»Sie machen sich lustig«, sagte sie steif.
»Ich spreche die Wahrheit.«
Er sah von ihr weg zum Altar. Seine Hände lagen auf seinen Knien, und Maggie sah, wie seine Finger sich anspannten, als er seine Knie fester umfaßte. »Wie heißt du?«
»Maggie Spence.«
»Ich sehe dich heute zum erstenmal in der Kirche, nicht?«
»Ja. Wir - meine Mutter und ich gehen nie in die Kirche.«
»Ach so.«
Immer noch hielt er seine Knie umfaßt. »Tja, Maggie Spence, du bist in reichlich zartem Alter auf eine der größten Herausforderungen der Menschheit gestoßen. Wie soll man mit der Fleischeslust umgehen? Noch vor der Zeit unseres Herrn haben die alten Griechen Mäßigung in allen Dingen empfohlen. Sie wußten nämlich, was für Folgen es haben kann, wenn man seinen Begierden nachgibt.«
Sie runzelte verwirrt die Stirn.
Er bemerkte ihren Blick und sagte erklärend: »Auch der Sex ist eine Begierde, Maggie. Ähnlich wie der Hunger. Der Anfang ist zwar nicht Magenknurren, sondern eher eine zaghafte Neugier, aber daraus wird bald eine heftige Neigung, die immer wieder Stillung verlangt. Und leider liegt der Fall hier anders als bei übermäßigem Essen oder Alkoholgenuß, auf die ziemlich prompt ein mehr oder weniger starkes körperliches Unbehagen eintritt, das uns später an die Folgen unüberlegter Genußsucht erinnert. Der Sex löst nämlich ein Gefühl des Wohlbefindens und der Befreiung aus, und das ist ein Gefühl, das wir dann immer wieder haben möchten.«
»Wie bei einer Droge?« fragte sie.
»Ganz ähnlich einer Droge, ja. Und genau wie bei vielen Drogen zeigen sich die schädlichen Eigenschaften nicht sofort. Und selbst wenn wir sie kennen - vom Kopfe, meine ich -, besitzt die Verheißung des Genusses häufig eine so starke verführerische Kraft, daß wir es wider die eigene Vernunft nicht bleiben lassen können. In solchen Momenten müssen wir uns an Gott wenden. Wir müssen ihn bitten, uns die Kraft zu geben zu widerstehen. Er wurde selbst in Versuchung geführt, das weißt du ja. Er weiß, was es heißt, ein Mensch zu sein.«
»Meine Mutter redet nie von Gott«, sagte Maggie. »Sie redet von Aids und Herpes und Warzen und Schwangerschaft. Sie meint, ich werd's schon nicht tun, wenn meine Angst groß genug ist.«
»Du bist ungerecht zu ihr, mein Kind. Die Sorgen, die sie sich macht, sind durchaus realistisch. Der Sex hat in unserer heutigen Zeit schlimme Begleiterscheinungen. Es
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