06 - Denn keiner ist ohne Schuld
ihre Manteltasche stopfte. Sie sagte: »Meine Stiefel sind ganz schmutzig.«
»Das macht nichts.«
»Soll ich sie hier draußen ausziehen?«
»Unsinn, du hast sie ja eben erst angezogen.«
Mit dem Hund an seiner Seite kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Das Feuer brannte noch, und er legte ein Scheit nach. Er spürte die Hitze, die ihm in Wellen ins Gesicht schlug. Er verharrte über die Flammen geneigt - und ließ sein Gesicht schmoren.
Hinter sich hörte er Pollys zögernden Schritt. Ihre Stiefel knarrten. Ihre Kleider raschelten.
»Ich war schon lange nicht mehr hier«, sagte sie zaghaft.
Nun, sie würde feststellen, daß sich alles sehr verändert hatte: Annies chintzbezogene Couchgarnitur verschwunden, Annies Bilder nicht mehr an den Wänden, Annies Teppich herausgerissen, all ihre Sachen durch ein geschmackloses Mischmasch ersetzt, nur danach ausgesucht, ob es zu gebrauchen war. Zweckmäßigkeit war das einzige, was er von dem Haus und seiner Einrichtung verlangte, seit Annie tot war.
Er erwartete eine Bemerkung von ihr, aber sie sagte nichts. Schließlich wandte er sich vom Feuer ab. Sie hatte ihren Mantel nicht ausgezogen. Sie war nur drei Schritte ins Zimmer hereingekommen. Mit bebenden Lippen lächelte sie ihn an.
»Ein bißchen kalt hier«, sagte sie.
»Stell dich doch vors Feuer.«
»Danke. Das mach ich.«
Sie hielt die Hände an die Flammen, knöpfte dann ihren Mantel auf, zog ihn aber nicht aus. Sie hatte einen voluminösen lavendelblauen Pullover an, dessen Farbe sich mit dem Rostrot ihres Haares und dem Magenta ihres Rockes biß. Ein schwacher Geruch nach Mottenpulver schien von ihr auszugehen.
»Geht es dir gut, Colin?«
Er kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie diese Frage immer stellen würde. »Ja. Möchtest du etwas trinken?«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ach ja. Danke.«
»Einen Sherry?«
Sie nickte. Er ging zum Tisch und schenkte ihr ein, nahm aber selbst nichts. Sie kniete vor dem offenen Kamin nieder und streichelte den Hund. Als er ihr das Glas reichte, blieb sie, wo sie war. An den Sohlen ihrer Stiefel haftete eine dicke Lehmschicht. Bröckchen davon waren auf den Boden gefallen.
Obwohl es das Natürliche gewesen wäre, wollte er sich nicht zu ihr setzen. Mit Annie hatten sie oft im Halbkreis um den Kamin gesessen, aber damals war ihre Beziehung noch eine andere gewesen: Keine Sünde hatte ihre Freundschaft zur Lüge gemacht. Er entschied sich daher für den Sessel, setzte sich auf seine Kante, die Arme auf den Knien, die Hände lose gefaltet vor sich wie eine Barriere.
»Wer hat sie angerufen?« fragte sie.
»Scotland Yard, meinst du? Der Mann mit dem kaputten Bein hat den anderen angerufen, vermute ich. Er war hierhergekommen, um Mr. Sage zu besuchen.«
»Und was wollen sie jetzt?«
»Den Fall wieder aufrollen.«
»Haben sie das gesagt?«
»Das brauchten sie nicht zu sagen.«
»Aber wissen sie denn etwas? Ist denn etwas Neues rausgekommen?«
»Sie brauchen nichts Neues. Sie brauchen nur Zweifel zu haben. Die teilen sie dem CID Clitheroe oder der Dienststelle Hutton-Preston mit. Und dann fangen sie an zu schnüffeln.«
»Macht es dir Sorgen?«
»Sollte es?«
Sie sah auf ihr Glas hinunter. Sie hatte noch nicht davon getrunken. Er fragte sich, wann sie es tun würde.
»Ich meine nur, dein Vater ist ein bißchen sehr streng mit dir«, sagte sie. »So war er immer, nicht wahr? Ich hab mir gedacht, er wird das vielleicht ausnützen, um dir die Hölle heiß zu machen. Er sah richtig sauer aus, als er ging.«
»Wie mein Vater reagiert, kümmert mich überhaupt nicht, falls du das meinst.«
»Na, dann ist ja alles in Ordnung, oder?«
Sie drehte das kleine Sherryglas auf ihrer Handfläche. Leo, der neben ihr lag, gähnte und legte seinen Kopf auf ihre Oberschenkel. »Er hat mich immer gemocht«, sagte sie, »schon von klein auf. Er ist wirklich ein netter Hund.«
Colin erwiderte nichts. Die Flammen ließen ihr Haar noch feuriger glitzern und überzogen ihre Haut mit einem goldenen Schimmer. Sie war auf eine aparte Weise attraktiv. Und die Tatsache, daß ihr dies nicht bewußt zu sein schien, hatte einmal einen Teil ihres Charmes ausgemacht. Jetzt weckte es nur Erinnerungen, die er seit langem zu vergessen suchte.
Sie sah auf. Er wich ihrem Blick aus. Sie sagte leise und unsicher: »Ich hab gestern abend den Kreis für dich gezogen, Colin. Ich habe Mars angerufen. Und um Kraft gebeten. Rita hat gesagt, ich soll für mich selbst bitten, aber das habe ich nicht
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