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06 - Ein echter Snob

06 - Ein echter Snob

Titel: 06 - Ein echter Snob Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Chesney
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Tränen der Anteilnahme
aus den Augen wischen, und Dave schniefte leise, putzte sich die Nase trotzig
am Ärmel ab und schaute sich um.
    Rainbird drückte Jenny ein großes
sauberes Taschentuch in die Hand. Er wartete geduldig, bis sie sich unter
vielen Schluchzern beruhigt hatte, und sagte dann leise: »Haben Sie gesagt, dass
Sie die hübscheste Dame dort waren?«
    »J-ja«, sagte Jenny und putzte sich
die Nase laut schnaubend. »Und woher wollen Sie das wissen, Miss?« fragte
Rainbird. Jenny sah ihn erstaunt an. »Aber man muss mich doch nur anschauen!«
sagte sie.
    »Aber Aussehen ist nichts,
verglichen mit Warmherzigkeit und Lebendigkeit«, rief Rainbird. »Niemand ist
äußerlich schön, wenn er nicht innerlich schön ist.«
    »Was!« Jenny war sprachlos. »Nach
allem, was ich für Sie getan habe, wagen Sie es, mich zu beleidigen... Sie,
ein Diener!«
    »Sie haben uns um unsere Hilfe
gebeten«, sagte Rainbird ruhig. »Es scheint mir, dass Sie sich nur auf Ihre
Schönheit und sonst gar nichts verlassen haben, und deshalb ist die Entwicklung
Ihres Charakters verkümmert. Für eine Dame ist es sehr ungehörig, offen
auszusprechen, dass sie sich für hübscher als alle anderen hält. Die
mopsgesichtige Dame ist vielleicht fröhlich und warmherzig und lustig.«
    »Ja, das war sie«, sagte Jenny
bitter, »das konnte sie leicht sein bei all den Herren, die um ihre
Aufmerksamkeit wetteiferten.«
    »Aber nicht eitel. Nicht stolz.«
    Jenny ließ den Kopf hängen. »Nein«,
flüsterte sie.
    »Nun, da haben wir's«, sagte
Rainbird triumphierend. »Beim nächsten gesellschaftlichen Ereignis, an dem Sie
teilnehmen, müssen Sie sich jeden Gedanken an Ihr Aussehen aus dem Kopf
schlagen. Sie müssen über unbedeutende Männer, die mit Ihnen tanzen, genauso
erfreut wie über bedeutende wirken. Falls Sie sich in der Rolle eines Mauerblümchens
finden, müssen Sie die Gesellschaft eines anderen Mauerblümchens suchen und es
aufheitern und trösten. Sie dürfen einen Monat lang nicht in den Spiegel
schauen.«
    Obwohl sie sich beschämt und elend
fühlte, musste Jenny lachen.
    »Aber wie soll ich mich denn dann
frisieren?«
    »Ihr Mädchen frisiert Sie. Sie
schließen die Augen und denken an etwas anderes.« Er schloss die Augen und
führte die komische Pantomime einer Dame vor, die versucht, nicht auf ihr
Äußeres zu achten: Er riß die Augen auf und starrte hingerissen auf sein
eigenes Spiegelbild, dann schloss er sie fest und saß mit frommem
Gesichtsausdruck da.
    Dank eines lebhaften
Stimmungsumschwungs, mit dem junge Leute so oft gesegnet sind, fühlte sich
Jenny auf einmal so lächerlich unbeschwert, wie sie vorher unglücklich gewesen
war.
    »Und«, sagte Rainbird, »machen Sie
Miss Mopsgesicht ausfindig und statt sie zu beneiden —«
    »Ich! Sie beneiden?«
    »Ja, anstatt sie zu beneiden,
versuchen Sie, sich ihr Verhalten zum Vorbild zu nehmen.«
    »Warum sollte ich Ihren Rat
befolgen?« fragte Jenny. »Sie gehen ja schließlich nicht in Gesellschaft.«
    »0 doch«, sagte Rainbird, »wenn auch
nur in meiner Eigenschaft als Diener.« Und er fügte absichtlich grob hinzu:
»Und jeder einzelne von uns hier hat bessere Manieren als Sie eingebildetes
kleines Fräulein.«
    Jenny fauchte wie ein wütendes
kleines Kätzchen. Aber Alice nähte ganz ruhig weiter, und die übrigen schauten
sie mit so freimütiger Anteilnahme an, als ob sie ihresgleichen wären und
keineswegs Diener.
    »Ich bin hierhergekommen, um
getröstet zu werden, und das einzige, was ich bekomme, ist ein weiterer
Rüffel«, sagte Jenny.
    »Rüffel können im nachhinein sehr
tröstlich sein«, sagte Rainbird ernst. »Sie können es eine Weile auf meine Art
versuchen, und wenn Sie keinen Erfolg damit haben, nun, dann können Sie
kommen und mir eine Strafpredigt darüber halten, wie vergeblich es ist, das
Leben von anderen Leuten regeln zu wollen.«
    »Was für eine merkwürdige
Gesellschaft Sie sind«, sagte Jenny. »Sind Sie miteinander verwandt?«
    »Nur durch die Ketten der
Knechtschaft sind wir miteinander verbunden«, sagte Rainbird feierlich. Zu
Jennys Verwunderung erhob er sich, schlug um den Tisch herum ein Rad und
landete wieder genau auf seinem Stuhl.
    »Mr. Rainbird ist früher auf
Jahrmärkten aufgetreten«, sagte Dave und klatschte vor Freude. »Machen Sie es
noch einmal, Mr. Rainbird.«
    »Nein«, sagte der Butler. »Jetzt
wünsche ich mir Wein und Musik.«
    »Ich habe den ganzen Abend Musik
gehört und mich danach gesehnt zu tanzen«, sagte Jenny

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