06 - Geheimagent Lennet unter Verdacht
untröstlich, Sie zu so unangemessener Stunde geweckt zu haben.«
»Erzählen Sie mir nur keine Geschichten: Sie sind ganz im Gegenteil begeistert. Bondacci rufe ich sofort an. Auf meiner Uhr ist es jetzt 2 Uhr 58. Stellen Sie die Ihre danach.«
Didier legte wieder auf.
»Soll etwa ich auf Sie schießen?« fragte Constanze.
»Ja, mein Engel. Und ich bete zu allen Heiligen, daß Sie ein so guter Schütze sind, um mich mit Sicherheit nicht zu treffen.
Die Szene muß folgendermaßen ablaufen: Sie haben mich unter den Gästen bemerkt und erraten, daß ich nicht Ivor bin. Dann sind Sie mir bis hierher gefolgt und haben mich dabei überrascht, wie ich aus dem Fenster steigen wollte. Sie haben in dem Augenblick auf mich geschossen, als ich auf dem Boden gelandet war. Sagen wir, daß Sie drei Schüsse abgeben. Ich bin leblos zusammengebrochen. Daraufhin haben Sie Alarm geschlagen. Die Einzelheiten überlasse ich Ihnen. Wenn Sie wollen, dürfen Sie sogar die Polizei anrufen. Von dieser Seite her haben wir nichts zu befürchten. Aber nun sagen Sie mir noch eins: Ivor muß einen französischen Informanten haben, der eine gewichtigere Stellung einnimmt als alle anderen.«
»Ja. Aber ich kenne nur seinen Decknamen: Pinocchio.«
»Pinocchio? Sind Sie ihm jemals begegnet?«
»Nein. Ivor hatte zwar die Absicht, mich zu einer ihrer Besprechungen mitzunehmen, um mich mit meiner Aufgabe als Angehörige eines Nachrichtendienstes vertraut zu machen. Aber dazu gab es noch keine Gelegenheit.«
»Wissen Sie, wie sie es anstellen, um sich zu treffen?«
»Sie treffen sich nur selten. Für gewöhnlich erhält Ivor seine Nachrichten mit Hilfe toter Briefkästen, die ich nicht kenne.
Aber es kommt vor, daß Pinocchio ihn anruft und ihn bittet, sich mit ihm zu treffen. Dann mietet Ivor einen Wagen und einen Fahrer, holt Pinocchio irgendwo ab, und dann fahren sie zusammen durch Paris.«
»Und der Fahrer hört alles, was sie sich zu sagen haben?«
»Aber nein! Für gewöhnlich bestelle ich den Wagen, und ich muß dafür sorgen, daß es ein Rolls-Royce ist. Da ist der Sitz des Fahrers vom hinteren Teil des Wagens durch eine Scheibe getrennt.«
»Wenden Sie sich immer an den gleichen Autoverleih?«
»Immer. Es ist die Firma Le Phaeton an der Place Vendome.
Dort trete ich unter dem Namen Schneider auf und bezahle im voraus.«
Während sie miteinander sprachen, durchsuchte Lennet die Schachtel mit den Sachen, die man ihm abgenommen hatte. Er entnahm ihr nur seine Uhr, seine Pistole und seine Brieftasche.
Dann kehrte er die Schachtel um, als habe er sie in aller Eile durchsucht.
»Constanze", sagte Lennet, »es bleiben uns noch drei Minuten. Nicht mehr viel Zeit, um Ihnen zu sagen, daß ich mich in meinem ganzen Leben noch niemals so sehr auf einen anderen Menschen verlassen habe wie jetzt auf Sie. Sobald Ivor wieder einen Wagen bestellt, rufen Sie mich unter der Nummer CHA 6712 an. Wahrscheinlich werde ich nicht am Apparat sein, ab«r Sie können zu demjenigen, der sich meldet, volles Vertrauen haben.
Wenn Ivor zu seiner Verabredung abgefahren ist, nehmen Sie einen Bus - auf keinen Fall ein Taxi - und fahren zum Verteidigungsministerium am Boulevard Saint-Germain. Dort sagen Sie, daß Sie eine Nachricht für den Französischen Nachrichtendienst haben. Bitten Sie um eine Unterredung mit dem Chef der Abteilung P, und berichten Sie ihm alles. Er wird das Versprechen halten, das ich Ihnen gegeben habe, und wird keinerlei Informationen von Ihnen verlangen, die Sie ihm nicht geben möchten. Noch irgendwelche Fragen?«
Constanze schüttelte den Kopf.
»Nein, Lennet. Tun Sie Ihr Bestes, und viel G...«
»Wünschen Sie mir vor allem kein Glück. Bei uns heißt es, daß es Unglück bringt. Lieber...«
»Lieber - was?«
Vielleicht war es die Atmosphäre dieses Abends mit den Geigen, Dienern mit Perücke und Damen in Abendkleidern, die auf Lennet abgefärbt hatte. Vielleicht war es auch die schöne Constanze, die sich wie eine Prinzessin benahm und in die er sich bis über beide Ohren verliebt hatte. Auf jeden Fall ergriff er, ohne recht zu wissen, was er tat, ihre Hand und küßte sie.
Dann riß er hastig das Fenster auf und schwang ein Bein über das Fensterbrett.
Fünf Meter tiefer lag die Straße, und der Bürgersteig sah sehr hart aus. Aber es gab nichts, was einem jungen Mann, der die Ausbildung des Französischen Nachrichtendienstes hinter sich hatte, Angst einzujagen vermochte. Seine Hände lösten sich vom Sims, und gleich
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