06 - Weihnacht
ihn zu fassen, und das war mein Glück, denn in diesem Augenblicke krachte ein auf mich gezielter Schuß, der mich getroffen hätte, wenn ich nur einen Moment länger stehen geblieben wäre. Das zeigte sich später, als wir sahen, daß die Kugel den Hals des hinter mir stehenden Pferdes von Eggly gestreift hatte. Und nun gab es eine kurze aber höchst anstrengende Szene. Die drei Kerle griffen nach ihren Revolvern hinter sich. Corner hatte ich fest unter mir, doch gelang es ihm auch, seine Waffe zu erfassen. Sheppard und Eggly richteten die Läufe auf mich; dem letzteren schlug ich die Hand weg, und den ersteren riß Rost zurück. Winnetou, welcher erst dem alten Lachner, denn dieser hatte auf mich aus dem Hinterhalte geschossen, nacheilen wollte, wendete sich schnell um und kam uns zu Hilfe. Er drückte Eggly zu Boden und hielt ihn fest. Ich schlug Corner an den Kopf, daß er wie tot zurückfiel. Sheppard rang noch mit Rost; ich gab ihm meinen Jagdhieb mit demselben guten Erfolge, und inzwischen war der Apatsche mit Eggly fertig geworden; er hatte ihm die Luftröhre zusammengedrückt, daß ihm die Besinnung vergangen war. Zwei Minuten später waren alle drei gefesselt.
Carpio stand wie im Traum da; er bewegte sich nicht, klagte aber nun mit bebender Stimme:
„Mein Gott! Ist es denn wirklich möglich, daß solche Dinge geschehen können? Ich habe geglaubt, daß sie nur in blutrünstigen Romanen vorkommen!“
„Im Leben kommen sie so vor, wie sie hier geschehen sind“, antwortete ich. „Ein Romanschreiber aber würde von uns acht Personen wenigstens fünf bis sechs in dieses schöne Gras beißen lassen.“
„Uff!“ ließ sich Winnetou hören, indem er flußabwärts zeigte, wo man den fliehenden Alten reiten sah.
„Laß ihn!“ antwortete ich. „Er nimmt die Strafe mit sich fort; sie läßt ihn doch nicht los!“
„Ich sah ihn dort hinter dem Strauche am Ufer stehen und auf Euch schießen“, erklärte Rost.
„Er hat mich nicht getroffen; die Folgen aber werden ihn selbst desto sicherer treffen. Ich wiederhole, laßt ihn fliehen!“
Das Zusammentreffen mit diesen Leuten hatte sich ganz anders entwickelt, als von uns beabsichtigt gewesen war. Ich hatte nur Carpio und womöglich auch seinen Oheim retten, nicht aber es zu einem Kampfe kommen lassen wollen; er hatte dennoch stattgefunden, glücklicherweise ohne Blutvergießen, denn die wenigen Tropfen, die aus der sehr leichten Streifwunde des Pferdes rannen, waren doch nicht zu rechnen. Nun fragte es sich, was jetzt geschehen solle. Ich warf einen fragenden Blick auf Winnetou. Er deutete stumm auf die Waffen der Überwundenen und dann auf diese selbst, wobei er die mit der Fläche nach unten gerichtete Hand schwer niedersinken ließ. Ich verstand diese Zeichen genau und sagte zu Rost und Carpio:
„Diese drei bleiben gefesselt hier liegen. Dein Oheim, Carpio, wird sicher wiederkommen und sie losbinden. Ihre Revolver nehmen wir mit; die Messer und Gewehre aber lassen wir ihnen.“
„Warum nehmen wir diese nicht auch?“ fragte Rost.
„Weil wir sie dadurch dem Hungertode überliefern würden; sie könnten sich kein Fleisch verschaffen. Den alten Gaul vertauschen wir gegen den Fuchs; dann reiten wir fort.“
„Wohin?“ fragte Carpio. „Doch heim?“
„Was nennst du heim?“
„Ich weiß es nicht. Wo aber wohnst denn du?“
„Überall und nirgends.“
„Hast du keine Anstellung?“
„Nein.“
„Wie jammerschade! Warum denn nicht?“
„Ich mochte keine.“
„Du mochtest keine!“ wiederholte er. „Und ich, ich armer Teufel, wäre mit der geringsten zufrieden gewesen! Ich glaubte dich in irgendeinem schönen Amte und habe erst gestern zu meinem Onkel gesagt, daß – – –“
„Daß du hier im wilden Westen herumirren mußt, während ich daheim eine jedenfalls sehr gute Anstellung bekleide“, fiel ich schnell ein.
„Das – ja, so habe ich gesagt, genau so! Aber Sappho, woher kannst du das wissen?“
„Von dir selbst.“
„Wie ist das möglich? Ich verstehe dich nicht.“
„Als du es sagtest, lag ich mit Winnetou hinter dir im Gebüsch. Wir belauschten euch.“
„Aber – – aber, lieber Sappho, das ist doch ganz genau so, wie man es in Indianerbüchern liest!“
„Und wie man es noch plastischer im wilden Westen selbst erleben kann. Wir werden darüber noch mehr sprechen, als jetzt möglich ist.“
„So bist du ein Westmann, ein wirklicher Westmann geworden?“
„Ja.“
„Wie wunderbar, wie wunderbar!
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