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brauchst oder wenn du Arger hast.
Gottes Segen sei mit dir, deine dich liebende Schwester Laura
„Darum hof en auf dich, die deinen Namen kennen; denn du verlassest nicht, die dich, Herr, suchen." (Psalm 9,10)
„Ja, ja, ja", sagte ich laut. „Du bist mir eine große Hilfe." Aber das war nur so dahingesagt. Tatsächlich war ich froh, dass wenigstens einer mich nicht vergessen oder das Land verlassen hatte oder ganz verschwunden war. Oder an Krebs litt.
Oder wenn du Ärger hast? Was sollte das denn heißen? Es war fast, als wüsste sie, dass mit jeder Sekunde neue merkwürdige Dinge passierten. Aber das war natürlich unmöglich. Seit dem Tag vor der Beerdigung hatten wir nicht mehr miteinander geredet und damals war es nur um Ant gegangen, nicht um Jessica und Marc und Sinclair und Antonia und Garrett.
Ich verdrängte den Gedanken. Laura war die Letzte, um die ich mir Sorgen machen musste. Selbst wenn sie die Weltherrschaft übernehmen würde -
wenn man dem Buch der Toten
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diesbezüglich Glauben schenken sollte. Sie war ein gutes Kind (wenn sie nicht gerade Vampire tötete, und das mit links), ausgeglichen und freundlich (wenn sie nicht gerade Serienkiller zur Strecke brachte) und sie war ganz entschieden ein braves Mädchen (auch wenn sie die Tochter des Teufels war). Also gut.
Verdammt!
Ich sagte es laut, nur damit der Gedanke sich in meinem Kopf festigen konnte:
„Also gut. Verdammt!" „Bereit für einen Ausflug, kleiner Bruder?"
„Arrrghhh."
„So ist es. Vorwärts, und so weiter."
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Ich war so daran gewöhnt, mein Herz Jessica auszuschütten (was ich nun schon seit der siebten Klasse tat), dass ich regelrecht entsetzt war, eine Gruppe von Ärzten und Schwestern anzutreffen, die um ihr Bett herumstanden.
Normalerweise sah man hier immer nur eine einzige Schwester, und das auch nur, wenn es Zeit für einen Beutel des Todes war.
Etwas abseits stand Nick und beobachtete alles, wobei er die Zähne so fest aufeinanderbiss, dass ich die Muskeln in seiner Wange zucken sah.
Als er mich bemerkte, sagte er matt: „Sie starten eine neue Runde Chemo. Sie ist wohl so etwas wie das Tagesgespräch. Und alle dürfen ihren Senf dazu abgeben."
„Aber .. " Schockiert legte ich Baby Jon an meine andere Schulter und betete still, er möge nicht aufwachen. „Aber sie hat doch gerade erst eine Behandlung abgeschlossen!"
„Wir haben es eben mit einem hartnäckigen Krebs zu tun."
„Aber ..: aber ... ich muss ihr ... äh ... etwas sagen."
Vorsichtig, sagte ich mir. Nicks armes mitgenommenes Hirn brauchte nicht noch mehr Hinweise, dass in dem Haus der Vampire irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging. „Ich meine, ich wollte mit ihr reden."
„Nun, das geht jetzt nicht." Er fuhr sich mit den Fingern durch das dichte blonde Haar, ganz offensichtlich nicht bei der Sache. Obwohl sein schwarzer Anzug zerknittert war und ein Ketchup-Fleck auf seinem marineblauen Hemd prangte, sah er fantastisch aus: die Figur eines Schwimmers, lange Beine, scharfe norwe
7°
gische Gesichtszüge - Wangenknochen, mit denen man sich rasieren könnte! -
und eisblaue Augen. Bevor ich starb, hatten wir fast so etwas wie eine Beziehung. Keine feste Beziehung, um ehrlich zu sein. Aber eine freundliche.
Die Biester hatten mich nämlich draußen vor Kahns Mongolischem Barbecue überfallen (lange bevor ich überhaupt wusste, was ein Biest war). Und wie jeder gute Bürger meldete ich den Überfall der Polizei. Nick half mir, die Verbrecherkartei durchzusehen, und wir teilten uns ein Milky Way. Das war's. Die große Romanze. Erst als ich von den Toten wiederauferstanden war (nachdem mich ein Pontiac Aztec überfahren hatte), zählte ich eins und eins zusammen. Aber davon wusste Nick nichts mehr und ich hatte nicht vor, den guten Detective aufzuklären.
„Sie lassen niemanden zu ihr", sagte der gerade und holte mich mit einem Ruck zurück in die Gegenwart. „Aber ich will mit dir sprechen."
Eine Welle von Mitgefühl ergriff mich. Natürlich liebte ich Jessica genauso wie Sinclair und Manolo Blahniks. Aber sie und Nick waren sich in den letzten Monaten sehr nahe gekommen. Die ganze Situation war auch für ihn nicht leicht.
„Natürlich, Nick, mein Lieber." Ich nahm ihn beim Ellbogen und führte ihn hinaus in den Flur. „Was hast du auf dem Herzen?"
„Hier rein." Er zeigte auf einen anderen Raum. Ich folgte ihm und sah, dass es ein leeres Krankenzimmer war. „Leg das Baby auf das Bett."
Ein wenig verwirrt gehorchte ich.
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