060 - Trip in die Unterwelt
Marionette.
Einige Minuten später erreichte der Erste der Besessenen einen Kreuzweg. Fledermäuse kamen aus einer der Höhlen und flatterten im Zickzack durch die Luft, an den Köpfen der Schweigenden vorbei.
»Jetzt bin ich gespannt«, murmelte ich.
Ich hatte die Seglerjacke aus dunklem, imprägniertem Segeltuch angezogen und fiel nicht auf.
Als ob eine unsichtbare Kraft ihn ziehen würde, zögerte der Anführer der Prozession keinen Sekundenbruchteil und ging nach links. Sie folgten dem Pfad, der zum Strand führte. Ich lehnte mich gegen die letzte der steinernen Figuren, die einer zusammengekrümmten Frau mit riesigem Becken und einem winzigen Kopf glich. Einen Augenblick lang hatte ich Zeit. Ich zündete mit fliegenden Fingern eine Zigarette an. Dann ging ich weiter.
Offensichtlich war meine Person für die Besessenen unwichtig geworden. Hunter hatte den Bann von mir genommen, ohne es zu wollen. Nun war er das Opfer.
Ich kam an die Stelle, von der aus der Rest des Weges bis zum Strand hin sehr genau zu überblicken war. Die Wellen rissen langsam das kleine Fischerboot in Stücke, das sich irgendwo losgerissen hatte und hier gelandet war.
Ich blieb stehen und starrte nach unten. Zwischen dem Ende der Steinallee und dem Strand befanden sich nur noch die Hälfte der Gestalten. Wolken schoben sich vor den Mond. Es wurde dunkel. Wo waren die anderen? Hatten sie sich aufgelöst?
Ich warf meine Zigarette ins feuchte Gebüsch und begann geduckt zu laufen. Zweige und Äste zerrten an mir und wollten mich wie lange, knochige Finger mit Widerhaken aufhalten. Ich wich nach rechts und links aus, blieb immer wieder stehen, sah nach vorn.
Die Prozession hatte sich hundert Meter vom Strand entfernt scharf nach rechts gewandt und war in dem von der Zeit, der Natur und den dort nächtigenden Hirten fast bis zur Unkenntlichkeit zerstörten Nuraghen verschwunden. Der Nuraghe s'alcarniu. Mir hatte man erklärt, es hieße großer ausgeweideter Mund . Das konnte stimmen oder nicht; jedenfalls passte der Name zu meiner verzweifelten Stimmung.
Ein Drittel des oben geköpften Rundkegels war ausgeschnitten; kleinere Steine waren auf der schiefen Ebene dorthin gezerrt worden, wo sie auf gewachsenem Fels aufliegen konnten. Im Lauf der Jahrhunderte war eine sturmzerzauste Eiche gewachsen, zwei Olivenbäume und wilde Himbeeren. Überall lagen Steinbrocken herum. Jetzt bückte sich der Letzte in der Prozession und tauchte unter dem langen, flachen Granitsplitter hindurch, der die obere Grenze des Eingangs bildete.
Aus dem Innern der kleinen, halb künstlich geschaffenen Höhle fiel Licht; zuckendes Licht; als ob Alkohol brennen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass all die Besessenen in diesen winzigen Innenraum hineinpassten.
Hunter verschwand im Eingang.
Ich zögerte, dann setzte ich mich wieder in Bewegung. Ich kannte den Nuraghen. In der Ruine konnten sich nicht mehr als fünf erwachsene Menschen aufhalten. Und woher kam dieses ungewöhnliche Licht?
Ich erreichte rutschend den Eingang, der aus zwei gut erhaltenen Mauern und dem Granitstein bestand, der in die Natursteine eingearbeitet worden war. Siebentausend Jahre – sagten sie – war der Nuraghen alt. Eine Fluchtburg der Steinzeitmenschen. Aus seinem Innern schlug mir fauliger, schwefliger Geruch entgegen.
Ich drückte mich flach an die abbröckelnde Wand, schob meinen Kopf nach vorn und starrte ins Innere des Bauwerks, das angefüllt war mit Abfall, einigen toten Ratten und einem stinkenden Hundekadaver. Durch das nasse, hereingewehte Laub führte eine schmale Gasse. Sie endete vor einem Spalt in der Innenmauer. Ein hochkant gestellter Stein, sicher eine halbe Tonne schwer, war herausgefallen und lag auf dem Boden. Aus dieser Öffnung, die ein wenig wie ein überspitzer gotischer Bogen wirkte, schlug das blaue, hin und wieder weiß aufzüngelnde Feuer.
Verblüfft und erschrocken drückte ich mich tiefer in den Schatten zwischen den Felsen.
Dieser Platz war uralt und sicherlich von unzähligen Forschern und Archäologen betreten und untersucht worden. Keiner von ihnen hatte herausgefunden, dass dieser Spalt ein Durchgang war.
Es sah so aus, als ob ein Gas ununterbrochen aus dem Spalt ausströmen und brennen würde. Und es roch nach Schwefel. Was lag hinter dem Spalt? Konnte ich es riskieren, Hunter und den Wahnsinnigen zu folgen?
Ich trat in die Mitte des Raumes, dessen Steine von zahllosen Hirtenfeuern geschwärzt waren. Das brennende Gas umschmeichelte
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