060 - Trip in die Unterwelt
mein Gesicht, mein nasses Haar begann zu dampfen.
Ich näherte mich vorsichtig dem Spalt. Schon der erste Blick belehrte mich, dass meine wildesten Vermutungen noch viel zu harmlos gewesen waren.
Hinter dem Spalt lag ein riesiges Gewölbe. Steinerne, ausgetretene Stufen führten etwa dreißig Meter tief hinunter. Ich erkannte im Licht der lodernden Flammen eine dunkle, unbewegte Fläche. Wasser. Das Gewölbe war in Wirklichkeit eine Höhle mit einem Zugang vom Land aus und einem anderen von der See her. Ich sah ein kleines Stück einer Insel in der Mitte der Wasserfläche. Dann hallte ein mörderisches Geräusch herauf. Es hörte sich an, als würden Steine gegeneinander gerieben. Dazwischen vernahm ich immer wieder das Plätschern des Wassers und vielstimmiges Murmeln.
Ich drehte mich um. Noch immer war ich allein, aber ich befand mich schon so tief in diesem Sumpf, dass ich schwerlich zurückkonnte.
Ich hielt mich an dem Felsen fest und begann vorsichtig die Stufen hinunterzusteigen, bemüht, keinen Laut von mir zu geben. Und jeder Schritt enthüllte meinen aufgerissenen Augen neue schauerliche Dinge. Ich war in eine fahle Welt geraten, die einem Bild von Hieronymus Bosch entstammen konnte.
Auf der zehnten der hohen Stufen blieb ich wieder stehen, duckte mich und sah mich um. Es war grauenhaft. Mein Haar sträubte sich. Eiskalter Schweiß stand auf meiner Stirn, und ich merkte, dass ich zu zittern begann.
Das Gewölbe war einzigartig. Die Decke der Höhle war von Tausenden von Tropfsteinen bedeckt, aber sie glänzten nicht mehr; es lief kein mit Kalk gesättigtes Wasser mehr an ihnen herunter. Ich sah tiefe Risse, nasenartige Vorsprünge, kleine Nebenhöhlen und bizarr herabhängende Felsstücke – alles ungleichmäßig mit dem weißen Kalk bedeckt.
Das Licht wirkte indirekt. Es war, als ob die Luft selbst leuchtete. Jede Ecke, jeder Teil der Höhle, die schätzungsweise hundertfünfzig Meter Durchmesser hatte, schillerte in einer anderen Farbe. Nur der ringförmige See in der Mitte blieb schwarz wie Tusche und unbewegt wie eine Glasscheibe. An einigen Stellen gab es Felsen, die aus dem Wasser ragten. Ansonsten Sandstrand. Die wenigen Steinansammlungen wirkten wie Stege in einem See.
Ich betrachtete die Insel genau. Sie war nicht groß, vielleicht zwanzig mal zehn Meter, und bestand aus Steinen, Felsplatten und schwarzem Sand. Die gesamte Insel war von Skeletten, Knochen und zum Teil zerschmetterten Schädeln bedeckt. All diese weißen Knochen waren Menschenknochen. Etwas am Rande dieser Skelettinsel sah ich einen dicken Holzpfahl, etwa einundeinhalb Meter hoch, auf dem ein Schädel steckte; der Unterkiefer war weggerissen. Um den Pfahl war eine lange Kette geschlungen, an der ein Halseisen angeschmiedet war. Jedes Glied der Kette hatte lange, schwarze Eisenstacheln.
Ich schüttelte mich vor Angst.
Es bedurfte keiner Phantasie, um sich vorzustellen, was dort auf der Insel geschah – immer wieder geschehen war. Dort lagen nicht weniger als fünfzig Schädel.
Jetzt erst fiel mir wieder dieses stoßweise Brummen und das Murmeln der vielen Stimmen auf. Langsam drehte ich den Kopf herum und sah die Gruppe, die am Wasser arbeitete. Halb aus dem Wasser ragten merkwürdige Dinge heraus. Sie sahen wie erstarrte Pflanzen aus, schienen aber Kristalle zu sein oder eine andere mineralische Substanz. Sie wirkten ein wenig wie steinerne Zweige mit Ästen und dünnen Blättern, und überall gab es Klumpen, die wie Blüten aussahen; und in diesen steinernen Blüten lagen Kristalle. Ich kannte sie. Es waren Kristalle von der Art, wie sie im Schädel des Eselskopfes gesteckt hatten. Die Besessenen mit den glühenden Augen wateten bis zum Bauch oder zum Kinn im eiskalten Wasser und sammelten mühsam die Kristalle ein. Sämtliche Kristalle, die sie in Körbe taten, waren stumpf. Ich wusste, was dies zu bedeuten hatte.
Langsam ging ich weiter. Mein Körper schien sich von meinem Verstand getrennt zu haben, denn er handelte selbständig. Während ich mit immer größerer Verwunderung die Szenen um mich herum betrachtete, immer mehr im Bann des Grauens stand, ging ich immer tiefer hinunter und blieb schließlich auf der untersten Stufe stehen. Ich suchte Dorian Hunter, aber in der Menge der schätzungsweise dreißig Schemengestalten sah ich ihn nicht.
Einer der Besessenen, die im Wasser herumwateten und die Kristalle abpflückten, kam mit mechanischen Bewegungen aus dem Wasser heraus und ging langsam, aber zielbewusst
Weitere Kostenlose Bücher