0603 - Die Pestklaue von Wien
Stelle zu bringen.
»Ich will nur allein sein, Claude«, hatte Isabel gesagt. »Kannst du das verstehen?«
»Sicher, Mädchen, sicher.«
»Dann ist gut.«
Sehr oft hatte sie sich vor den Spiegel gestellt und immer wieder den Kopf geschüttelt. Nein, sie sah nicht gut aus, der erlebte Schrecken schien sich dicht unter der bleich wirkenden Haut abzuzeichnen und das Gesicht noch schmaler zu machen.
Plötzlich haßte sie ihre schwarzen Sachen, wühlte im Koffer herum und suchte etwas Helles, Buntes hervor. Einen gestreiften Pullover zog sie über und den kurzen, engen, weißen Rock, der in Höhe des Saumes etwas auseinanderschwang. Sie legte noch etwas Make-up auf und war dann einigermaßen zufrieden.
Eigentlich hätte sie bei diesem Wetter durch Wien gehen und einen Bummel machen sollen. Um das Hotel herum fand sie die herrlichsten Geschäfte. Sie brauchte nur um die Ecke zu gehen, dann stand sie auf der Kärntner Straße, der Einkaufszeile Wiens überhaupt.
Isabel hatte keinen Bock. Ließ sich statt dessen Kaffee auf das Zimmer bringen, trank ihn am Fenster im Stehen und auf den Verkehr vor der Oper schauend.
Mit den Kolleginnen konnte sie auch nicht reden. Sie waren unterwegs, um für die große Schau zu proben. Isabel spürte die Einsamkeit des Zimmers wie eine Last, schaltete den Fernsehapparat ein, ging die Programme durch und fand nichts, was sie interessiert hätte. Sie schaute nur in Seifenopern und Trickfilme hinein.
Was blieb ihr?
Ganz einfach. Sich aufs Bett zu legen, versuchen, etwas Schlaf zu finden, abschalten, aber dann hätte sie keinen Kaffee trinken sollen.
Es war ein Espresso gewesen, sehr stark.
Sie ging wieder ins Bad. Vor dem Spiegel blieb sie stehen und wühlte durch die Haare. Das Gel hatte sie herausgewaschen, jetzt fielen sie locker und duftig um ihren Kopf. Doch das war noch keine Frisur, darum kümmerten sich die Spezialistinnen.
Wieder meldete sich das Telefon. Komisch, sie war sogar froh deswegen, die Stille habe sie in den letzten Minuten nicht mehr gemocht. So rasch wie möglich lief Isabel in den anderen Raum, warf sich aufs Bett und hob erst dann ab. Sie hoffte, daß es ihr Freund war, der aus Nizza anrief. Sekunden später erstarrte sie zu Eis, denn die Stimme kam ihr bekannt vor.
Es war der Mann, der sie in der vergangenen Nacht schon angerufen hatte, als die Hand erschienen war.
»Hallo, hattest du einen netten Tag bisher?«
»Bitte«, flüsterte sie und merkte, daß ihr Herz viel schneller schlug als sonst. »Bitte, was ist…?«
»Hattest du einen guten Tag?«
»Nein!« schrie sie. »Den hatte ich nicht, verdammt!« Danach schluchzte sie auf und hörte das gemein klingende Lachen des Unbekannten.
»Das tut mir leid, aber du solltest wirklich versuchen, dir einen guten Tag zu machen. Man kann nie wissen, was noch kommt. Isabel, man kann nie wissen.«
»Wieso…?«
»Nicht immer fragen, zuhören. Es sind zwei gekommen, die die Hand zerstören wollen.«
»Ja, ja, zum Glück. Hoffentlich werden sie die Klaue zerhacken – hoffentlich.«
»Das glaube ich kaum, Isabel, denn sie ist frei – endgültig. Hast du gehört? Die Hand ist frei…«
Isabel begriff nicht sofort. »War sie denn nicht schon längst frei?«
»Leider nein«, erwiderte der Anrufer. »Sie kehrte immer wieder zurück. Aber jetzt…« Er ließ die nächsten Worte unausgesprochen, deshalb stellte Isabel trotz ihrer Angst noch eine Frage.
»Wer sind Sie denn? Weshalb sagen Sie nicht Ihren Namen?«
Der Unbekannte ließ sich nicht beirren. »Sie wird dich jagen, kleine Isabel. Sie wird dich jagen, zerstören, vernichten oder zerquetschen. Du wirst ihr nicht entkommen können, es sei denn…« Da legte er auf. Isabel hatte das typische Geräusch vernommen, holte tief Luft, wischte über ihre schweißnasse Stirn und ließ sich langsam zurückgleiten, bis sie auf dem Bett lag.
Komisch, dachte sie. Du schreist nicht einmal. Du drehst nicht durch, du brüllst nicht, läufst nicht im Zimmer umher, rennst nicht gegen Wände, fängst nicht an zu trommeln, du bist gelassen, du nimmst es hin, daß man dich mit dem Tode bedroht – was ist mit dir los?
Darüber dachte sie nicht nach, wälzte sich zur Seite, stand auf und betrat wiederum das Bad, um sich dort noch einmal frisch zu machen. Auf einmal hatte sie das Verlangen, unter Menschen sein zu wollen. Draußen war es ihr zu warm, im Hotel fühlte sie sich geborgener als sonst, und sie beschloß, hinunter in die Hotelbar zu gehen, um dort einen oder auch
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