0617 - Das Blut der Mumie
Lächeln verzogen. Wenn Ann mich anschaute, sollte sie wenigstens ein etwas vertrautes Gefühl haben. Das flößt ein lächelnder Mund eher ein als ein verzogener.
Zunächst mußte ich wissen, wie sie auf das Allsehende Auge reagierte. Deshalb zeigte ich ihr das Kreuz und sprach sie auch auf das Auge an. »Du kennst es, Ann?«
»Ja«, klang die leise Antwort. »Das Auge der Vorsehung, das Auge des Osiris.«
Ich nickte. »Wunderbar. Es ist ein gutes Zeichen, nicht wahr?«
»Licht vertreibt die Finsternis«, flüsterte sie.
»Das meine ich auch. Ich bin gekommen, um die Finsternis aus deinem Geist zu vertreiben, Ann.«
Die Frau reagierte nicht. Noch wirkte sie teilnahmslos. Sie bewegte zwar die Lippen, doch kein roboterhaft gesprochenes Wort drang aus ihrem Mund.
Über sie und das Allsehende Auge mußte ich einfach an die Katze herankommen. Nicht die Mumie war meiner Ansicht nach der springende Punkt, einzig und allein die Katze, denn sie stammte aus der uralten Zeit, sie hatte überlebt und den Baumeister Herodot mit Informationen gefüttert. Der Katze würden auch die alten, magischen Praktiken nicht unbekannt sein.
»Das Allsehende Auge ist sehr wichtig«, flüsterte ich ihr zu. »Du solltest dich darauf konzentrieren. Es wird dir, es wird uns die Aufklärung bringen.«
»Worüber?«
»Über Herodot, über die Katze…«
»Ich weiß alles.« Stockend hatte Ann Tobey die Worte gesprochen.
Sie kam mir jetzt vor, als wäre sie aus einem tiefen Schlaf erwacht.
Plötzlich war sie voll da.
»Was weißt du?«
»Sie sind in der Nähe. Sie haben die Gefahr genau gespürt. Das Auge hat sie gelockt.«
Die Erklärungen klangen fremd für mich. »Wen soll es denn gelockt haben?«
»Die Katze…«
»Ist sie hier?«
»Ja!« stieß die Frau hervor. »Ich spüre ihre Nähe. Sie kann es nicht hinnehmen, daß Fremde von Dingen erfahren, die ihnen verschlossen bleiben sollen. Das mußt du verstehen. Die Katze ist wichtig. Sie ist der Träger des Wissens. Man darf als normal Sterblicher nicht an sie heran. Nur die Mumie kann es.«
»Ist sie auch in der Nähe?«
»Ich spüre nur den Einfluß der Katze.«
Hockend drehte ich mich zu Suko um. »Du hast es gehört?«
Mein Freund begriff. »Klar, John, ich werde mal nachschauen.« Er ging zum Fenster.
Draußen war es zwar nicht dunkel, aber an diesem trüben Tag war es auch nicht richtig hell geworden. Der Himmel hatte einen noch graueren Schimmer bekommen. Die Wolkendecke war tief gesunken und lag schwer über der Stadt.
Mir wäre natürlich die Mumie lieb gewesen, doch die alte Katze war ebenfalls nicht zu verachten. Wenn es uns gelingen würde, sie einzufangen und zu beeinflussen, hätten sie einen ausgezeichneten Informationsspender bekommen.
Suko stand am Fenster und verdrehte seinen Hals. »Ich sehe noch nichts, John. Keine Katze.«
»Aber sie ist da. Ich spüre sie!« Stockend gab Ann Antwort. Vier Nadeln steckten in ihrem Gesicht, über das plötzlich ein Zucken lief.
Die Blutstreifen schienen über die Haut laufen zu wollen. Ein jeder von uns merkte auch die Unruhe bei ihr.
»Was ist mit dir, Ann?«
»Ich… ich habe euch verraten. Ich habe zuviel gesagt. Die Katze wird sich rächen.«
»An dir?«
»An allen, die damit zu tun haben. Wir alle haben uns der Vergangenheit gegenüber schuldig gemacht. Glaub es mir.« Sie bewegte den Kopf, als wollte sie die Nadeln abschütteln. »Ich habe mich nicht in ihrem Sinne verhalten. Ich habe alles verraten. Ibrahim hatte recht. Ich bin zu einer Verräterin geworden.«
»Nein!« widersprach ich. »Du hast gut daran getan, mit uns zusammenzuarbeiten.«
»Ich kann nicht mehr entkommen. Ich stehe unter dem Einfluß, ich bin eine Gezeichnete.« Jedes Wort brachte sie nur mühsam hervor, als müßte sie zunächst nach den einzelnen Buchstaben suchen. Ihre Augenwimpern vibrierten, die Lippen zuckten ebenfalls, hin und wieder verdrehte sie die Pupillen.
Ich hätte dieser Frau gern geholfen. Nur wußte ich nicht, was passierte, wenn ich ihr die Nadeln aus dem Gesicht zog. Vielleicht tat ich genau das Falsche, und dieses Risiko wollte ich auf keinen Fall eingehen.
Sie starrte mich an, öffnete den Mund. Ich sah ihre Zunge. Sie kam mir klumpig und grau vor, als würde sie allmählich verfallen. Im nächsten Augenblick flüsterte die Frau etwas Schreckliches. »Ich… ich lebe nicht mehr richtig. Ich schwebe zwischen den Zeiten. Ich bin nicht Gegenwart, ich bin nicht Vergangenheit. Ich werde von den Zeiten erdrückt. Ich
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