0621 - Weckt die Toten auf!
ihrer phantasievollen Dekoration ganze märchenhafte Geschichten, die von den Tänzerinnen und Tänzern lebhaft illustriert wurden. Eine Schule mochte problemlos zwischen zwei- und dreitausend Tänzer auf die langen Beine bringen. Immerhin bot die etwa zehn Kilometer lange und durchgehend rund hundert Meter breite Prachtstraße dafür Raum genug und ließ auch den Zuschauern Platz, jederzeit mitzumachen, mitzutanzen.
Schätzungsweise 300.000 Tänzer und Musiker beiderlei Geschlechts, davon allein 30.000 aus den Samba-Schulen, nehmen alljährlich an dieser ›Parade der Sehnsucht‹ teil. Einmal im Mittelpunkt stehen, einmal im Lichterglanz, und von allen bewundert und umjubelt werden. Und vielleicht sogar mit der Showdarbietung der Schule einen Preis gewinnen, vielleicht mit der gesamten Schule in eine höhere Klasse des Ansehens aufsteigen… Hier, im Karneval, lodert nicht nur Lebenslust, sondern erblühen und sterben auch Hoffnungen uñd Träume, wenn nach dem großen Feuerwerk über der Copacabana die Preisvergabe erfolgt.
Viele der Mädchen schneidern annähernd ein ganzes Jahr an den prachtvollen, bunt glitzernden Kostümen. Viele Familien stecken trotz größter Armut jeden irgendwie entbehrlichen Centavo hinein. Am Umzug teilnehmen zu können, bedeutet mehr als alles Geld. Und kaum ist der Karneval vorbei, beginnen bereits die Vorbereitungen für die nächste Saison…
Tausende von Zuschauern sammeln sich in der Avenida Varga und in den Seitenstraßen, in dunklen Hofeingängen, auf Baikonen, an Fenstern. Mitgerissen von der Musik, dem Samba-Rhythmus, der fröhlichen, aufreizenden Stimmung. Man lacht, tanzt, singt, trinkt, flirtet, küßt, liebt und wird bisweilen bestohlen oder in düstere Hauseingänge gezerrt, niedergeprügelt und dann erst bestohlen. Je nachdem, an welche Kategorie von Taschendieben oder Räubern man gerät.
Aber an diese Schattenseite wollte Eva nicht einmal denken. Sie wollte einfach nur genießen. Nicht mehr und nicht weniger.
Und dazu fand sie eine Menge Gelegenheiten.
***
Nicole war nicht halb so gut gestimmt, wie sie Zamorra vorgespielt hatte. Allein in der Menge herumzutoben, machte ihr wenig Spaß. Sie hatte gehofft, ihren Lebensgefährten doch noch zu einer Meinungsänderung zu bewegen, aber das gelang ihr eben nicht.
Und vielleicht hatte er ja auch recht.
Vielleicht ging es wirklich um eine Gefahr, die schnellstens beseitigt werden mußte. Dann war es nicht gut, bis morgen zu warten. Sonst konnten weitere Menschen zu Schaden kommen.
Also - ermitteln, zuschlagen und dann erst sich dem Vergnügen hingeben - in der Hoffnung, daß bis dahin der Karneval nicht bereits vorüber war.
Nicole kehrte zum Hotel zurück, um Zamorra ihre Unterstützung anzubieten.
Aber er war schon fort. Natürlich -wenn er sich etwas in den Kopf setzte, verlor er keine Zeit.
Sie überlegte. Er hatte gesagt, er wolle sich die andere Leiche ansehen. Danach stand Nicole nun wirklich nicht der Sinn. Aber sie konnte sich vielleicht mit einer ›Beinahe-Leiche‹ unterhalten: Mit Pablo Escanderon!
Kurz entschlossen streifte sie sich ein Kleid über ihre alles andere als jugendfreie Kostümierung, ließ einen Brustbeutel mit etwas Geld halbwegs diebstahlsicher darunter verschwinden und bestellte ein Taxi. Nachdem sie vorhin die warme Nachtluft in ihrem Minimal-Outfit genossen hatte, fühlte sie sich jetzt trotz des recht dünnen Stoffes fast wie in einen Wintermantel verpackt.
Auch wenn es nachts erheblich kühler war als bei Tage, reichte es in der Stadt noch für mehr als 25° C. Die Häuser strahlten die bei Tage gespeicherte Wärme jetzt wieder ab, und Rio besitzt viele Häuser. Nicole schätzte, daß die Temperatur in den Straßen immer noch eher bei 30 als bei 25 Grad lag.
Nicht, daß sie das sonderlich betrübt hätte.
Vorhin hatte sie aufgepaßt, in welches Krankenhaus Escanderon gebracht worden war.
Dort wollte man sie um diese späte Stunde nicht mehr hereinlassen. Durchaus verständlich, aber irgendwie brachte sie es trotzdem fertig, sich Einlaß zu verschaffen. Sie fand das Zimmer, in dem man Escanderon einquartiert hatte, und trat vorsichtig ein.
Pablo war wach. Erstaunt erkannte er seine Besucherin und winkte sie zu sich auf die Bettkante. Unwillkürlich mußte sie schmunzeln. Flüsternd fragte Pablo sie nach dem Grund.
»Mein Gefährte hat mich davor gewarnt, mich von fremden Männern ansprechen zu lassen. Und jetzt bin ich sogar mit einem fremden Mann im Bett…«
»Nur schade,
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