0623 - Ein Tropfen Ewigkeit
gefunden und ihn für seine Generationen freigemacht. Er kehrte auf die Insel zurück und wurde zu deren Wächter, dem Schattenreiter, der in den Sagen und Legenden als Brân einging. Nur wenige kennen seinen richtigen Namen, wir aber wissen Bescheid. Er kann es nicht zulassen, daß du getötet wirst, Melusine.«
Die junge Frau war völlig durcheinander. Sie wischte über ihre Stirn, zwinkerte mit den Augen und dachte daran, was sie an Neuigkeiten erfahren hatte.
Der Schattenreiter, der sich Brân nannte, war in Wirklichkeit ihr Ahnherr und einer der ersten Menschen, die den Weg nach Avalon gefunden hatten.
Sie konnte es nicht fassen, dann mußte Dyfur, der Bruder, ebenfalls ein de Lacre sein.
Melu drehte sich behutsam um. Sie wollte den Riesen nicht durch eine zu hastige Bewegung reizen. Die Frage stand schon in ihren Augen geschrieben, und der mächtige Schädel senkte sich ihr entgegen, während sich das Maul zu einem breiten Spalt verzog.
Er gab ihr eine Antwort. »Ja, ich bin ein de Lacre gewesen, aber das ist in einer Zeit geschehen, an die ich mich nicht mehr erinnern will. Ich habe einen anderen Namen angenommen, was auch mein Bruder tat. Damit hast du nichts zu tun, auch wenn du eine de Lacre bist, wirst du deinem Schicksal nicht entgehen. Wir haben damals verschiedene Wege gewählt, die müssen wir einhalten.«
Melusine hatte längst erkannt, wie ernst es dem Riesen mit seiner Rede gewesen war. Ihr blieb nur die Flucht nach vorn übrig. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Zu verlieren hatte sie nichts mehr. Sie stand dicht am Rand des Zauberkessels. Um in ihn hineinzufallen, brauchte sie nur einen Schritt zu gehen, sich abzustoßen und einfach in den Nebel hineinzuspringen. Sie hoffte dabei auf die Hilfe ihrer Eltern, damit deren Geister sie ab- und umfingen.
»Ich komme!« schrie sie und stieß sich ab.
Ihr Körper beschrieb einen Bogen, kippte dann nach vorn, und sie wäre mit den ausgestreckten Armen zuerst in den Nebel eingetaucht wie ein Schwimmer in den Pool.
Melu spürte bereits die warmen Arme des Dunstes, die sie umfingen wie luftige Kleidungstücke, als das dicke Ende nachkam. Diesmal grausam und unabweichlich.
Dyfur hatte nur seinen Arm auszustrecken brauchen. Er war gewaltig, er war lang und groß.
Die Hand wurde zur Klammer!
Im Sprung schaffte sie es, Melusine de Lacre zu umfassen. Melu spürte den Druck, der ihren Körper zusammenpreßte und ihr sogar die Luft zu einem Schrei nahm.
Gleichzeitig hörte sie das häßliche Lachen. Für sie persönlich war es der Anfang vom Ende. Jetzt bewahrte sie nichts mehr davor, von Dyfur verschluckt zu werden…
***
Die geisterhafte Gestalt des König Artus schwebte über mir, aber sie kam nicht näher. Auf halbem Wege blieb sie stehen, mit ihren festen Umrissen innerhalb des Lichtfächers. Sie senkte nur den Kopf und schaute auf mich nieder.
Wie sollte ich meine Gefühle Artus gegenüber beschreiben! Ich wußte es nicht.
Mein eigenes Schicksal war zurückgedrängt worden. Ich dachte auch nicht mehr an den Alterungsprozeß, den ich durchgemacht hatte, denn mein Denken drehte sich um die geheimnisvolle Gestalt mit der Königskrone. Die Legenden und Sagen, die sich mit dem König beschäftigten, entsprachen also der Wahrheit. König Artus war es gelungen, den Weg nach Avalon zu finden, um hier auf der Insel das ewige Leben zu erlangen. Er hatte sich einen Platz ausgesucht, der ihm einfach nicht fremd sein konnte, weil er von den versteinerten Rittern seiner Tafelrunde umgeben war. Erzogen war er von dem geheimnisvollen Zauberer Merlin. Er hatte ihn eingeweiht in die Künste der Magie und Zauberei, so daß ich mich automatisch fragte, ob ich dem Zauberer ebenfalls auf dieser Insel begegnen würde.
Der König bewegte sein Gesicht. Keine Falte erschien darin. Er mußte die ewige Jugend besitzen, sonst wäre sein Gesicht längst mit dem Anblick eines eingeschrumpften Apfels zu vergleichen gewesen.
Ohne ein Wort zu sprechen, glitt er aus der Höhe dem Boden dieser Höhle entgegen.
Ich merkte sehr genau, daß sich hier etwas getan hatte. Nicht nur äußerlich und sichtbar durch das Auftreten des Königs, auch das Fluidum war ein anderes geworden.
Etwas durchschwirrte die Höhle, das ich nicht fassen und erklären konnte.
Eine geisterhafte Botschaft, lautlose Stimmen – so paradox dies auch erscheinen mag. Ich hörte sie in meinem Hirn, es war ein leises Summen und Singen.
Dabei achtete ich auch darauf, ob sie mir eine Gefahr brachten. Die
Weitere Kostenlose Bücher