0629 - Der Racheengel
nicht.
»Hauen Sie schon ab!«
Da ging er. Ich dachte, er würde rennen, doch das tat er nicht. Schleichend näherte er sich dem Ziel.
Bis Wilma Lane eingriff. »Nein, du wirst stehen bleiben, Brake. Du wirst nicht verschwinden!«
Er stoppte, schaute zu ihr, und ich sah, dass sich seine Augen ungläubig geweitet hatten.
Erst jetzt drehte auch ich den Kopf und blickte Wilma Lane an. Sie hatte ihre Haltung nicht verändert. Noch immer stand sie auf dem Fleck wie eine Eins.
Nur hielt sie diesmal eine doppelläufige Schrotflinte in der Hand, deren Mündungen auf Brake zielten…
***
Das durfte nicht wahr sein! Sie auch noch. War ich denn nur von Feinden umgeben?
»Mrs. Lane!«, keuchte ich. »Verdammt, wissen Sie überhaupt, was Sie da tun?«
»Das weiß ich sehr wohl, Sinclair.«
»Es scheint mir aber nicht so zu sein. Sie können doch nicht diese Person…«
»Er hat es nicht anders verdient, Sinclair. Wir hassen diesen Menschen, alle hassen ihn. Er ist furchtbar, er ist grauenhaft. Niemand hat ihn gemocht, diesen Ignoranten und Menschenverächter. Das können Sie mir ruhig glauben.«
»Schon, aber…«
»Kein Aber, Sinclair, kein Aber. Ich gehöre nicht zur Polizei, ich kann so handeln, wie es mir mein Verstand vorschreibt. Und der wiederum sagt mir, dass die Zeit reif ist. Er soll für das bezahlen, was er den Menschen damals angetan hat. Ein fünffacher Mörder wird vor Gericht gestellt. Dank seiner Reputation und seiner Beziehungen wird er möglicherweise noch freigesprochen, weil es keine ausreichenden Fakten gibt. Nein, ich will ihn tot sehen, das hat er verdient. Wenn Sassia ihn nicht tötet, werde ich es übernehmen.«
»Machen Sie sich nicht unglücklich, Mrs. Lane!«
»Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen, Sinclair. Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich tue. Ich werde ihn nicht entkommen lassen, ich will Ihre verdammten Pläne durchkreuzen. Haben Sie mich verstanden? Haben Sie das?«
»Ja.«
»Okay, Brake, auch du hast es gehört. Komm her, komm langsam näher und bleib erst dann stehen, wenn ich es sage.«
Brake warf mir einen fragenden Blick zu, sah mein Nicken und setzte sich dann in Bewegung.
Er ging mit Zitterschritten. Auf seiner Stirn glänzte es, als hätte jemand Öl darüber gegossen. Er befand sich in einer verzweifelten Lage, doch einen anderen Ausweg gab es nicht. Mir waren die Hände gebunden. Okay, ich hätte die Beretta ziehen können, aber die kleine Frau mit der Schrotflinte wäre immer schneller gewesen. Da genügte eine winzige Bewegung des Zeigefingers.
»Wo - wo soll ich denn hingehen?«, fragte er mit leiser, naiver Stimme. »Wo denn?«
»Ich sage dir schon Bescheid.«
So ging er weiter. Mit weichen Knien und zitternden Oberschenkeln. Er kam nicht den gleichen Weg zurück, sondern schlich an einem runden Tisch vorbei, um den mehrere Stühle standen.
»Halt jetzt!«
Er stoppte.
»Nimm dir einen Stuhl, Brake! Los, mach schon, zieh ihn zu dir heran, aber schnell!«
Ich wusste nicht, was die Frau vorhatte. Bestimmt würde sie ihn nicht dazu auffordern, sich zu setzen, diese Frau hatte etwas ganz anderes im Sinn.
Sir Edgar schaffte es nicht einmal, den Stuhl anzuheben. Er schleifte ihn über den Boden, was kratzende Echos hinterließ und in meinen Ohren wehtat.
»Schön«, flüsterte sie. »Es tut mir gut, einen Mann wie dich einmal gehorchen zu sehen.«
Sir Edgar drehte den Kopf. Mit einem schon flehenden Blick schaute er die Frau an.
Der Stuhl musste noch von ihm herumgedreht werden, sodass die Sitzfläche mit ihrer vorderen Kante seine Beine berührte. Erst dann war die Frau mit der Schrotflinte zufrieden.
»Das ist gut, Brake. Wie toll du doch gehorchen kannst. Ich gratuliere dir.«
»Was ist denn?«
»Knie dich hin!«
»Was soll ich?«
»Hinknien, zum Teufel!«
Ich ahnte schon, was da auf uns zukommen würde. Eine Hitzewelle raste durch meinen Körper.
Brake aber schaute unsicher auf die Frau mit der Waffe, bevor er bebend in die Knie ging und die gewünschte Haltung direkt vor dem Stuhl einnahm.
»Ja, das ist gut, Brake. Ich wusste nicht, wie gehorsam du sein kannst.«
»Und - und jetzt?«
Wilma Lane lachte scharf. »Jetzt, Brake, wirst du deinen Kopf vorbeugen und dein Gesicht auf die Sitzfläche pressen, damit dein Hals so richtig frei liegt. Er muss frei sein…«
Ich fuhr herum. »Sie wollen ihn köpfen lassen?«
»Ja!« Sie peitschte mir die Antwort entgegen. »Er hat nichts anderes verdient!«
Auch Sir Edgar hatte die Worte
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