0629 - Der Racheengel
mehr Dunkelheit den Friedhof erfasste.
Suko wartete. Er gehörte zu den geduldigen Menschen, schon allein von seiner Herkunft her. Asiaten sind anders als Europäer, und Suko gelang es auch, sich in sich selbst zu versenken. Das musste er tun, um auf den großen Kampf vorbereitet zu sein.
Er meditierte, er wurde eins mit der Stille, vergaß die Welt um sich herum, ohne allerdings in seiner Wachsamkeit nachzulassen. Beim geringsten fremden Geräusch würde er aufschrecken.
Noch geschah nichts.
Irgendwann schaute Suko auf. Der alte Friedhof wurde nun von der abendlichen Dunkelheit umhüllt. Die Luft war nicht mehr kälter geworden, hatte seiner Meinung aber einen anderen Geruch angenommen. Wenn er sie einsaugte, dann roch sie würziger.
Der Nebel war geblieben, manche Kreuze schimmerten feucht. Zwei Eichhörnchen huschten in seiner Nähe vorbei und kletterten blitzartig den Stamm eines Baumes hoch, um sich im Geäst zu verbergen.
Plötzlich horchte Suko auf. Gleichzeitig setzte er sich kerzengerade hin.
Er wusste selbst nicht, wer oder was ihn aus seiner tiefen Ruhe geschreckt hatte. Grundlos war dies bestimmt nicht geschehen. Sukos Sinne waren geschärft und glichen manchmal kleinen, hochsensiblen Sensoren, die er ausgefahren hatte.
Mit starren Blicken durchsuchte er den alten Totenacker, ohne etwas entdecken zu können.
Keine Gestalt durchschritt die schmalen Wege zwischen den Gräbern. Nur der sanfte Wind bewegte die Zweige der Büsche, als wollte er sie streicheln und liebkosen.
Suko stand nicht auf. Falls ihn jemand beobachtete, sollte dieser nicht wissen, dass Suko misstrauisch geworden war.
Er schielte auf die Uhr.
Genau konnte er es nicht sagen, aber er glaubte, dass seit dem Verschwinden der Frau ungefähr zwanzig Minuten vergangen waren. Eine Zeitspanne, die dem mörderischen Trio eigentlich hätte ausreichen müssen.
Der Friedhof blieb still. Es war nichts zu sehen, was Suko hätte misstrauisch machen können. Nur eben sein Gefühl hatte ihn gewarnt, und darauf hörte er.
Wenn sie kamen, würden sie sich teilen, Umwege gehen und darauf bauen, dass sie in gewisser Weise unbesiegbar waren.
Suko traf seine Vorbereitungen. Er lockerte die Beretta und steckte die Dämonenpeitsche schlagfertig in seinen Gürtel. Die drei Riemen waren ausgefahren.
Jetzt konnten sie kommen. Trotz seiner Bewaffnung wusste Suko von dem Risiko, das er einging.
Einer Kugel oder einem aus dem Hinterhalt abgeschossenen Pfeil konnte auch er nicht entgehen.
Hörte er Schritte?
Von der linken Seite her und noch durch die Hecke gedeckt, glaubte er, etwas Ähnliches zu hören.
Suko stand auf.
Ein Fehler, denn der Kerl erschien von der rechten Seite und richtete die MPi auf ihn.
Es war der fette Arnie, der Glatzkopf, der ihn ankicherte und flüsterte: »Setz dich wieder hin, du Schwein…«
***
Sassias Worte waren verklungen, und ich wartete ab, wie Brake reagieren würde.
Er tat zunächst nichts. Stattdessen war er kalkweiß geworden, der Schock saß tief.
Und sie kam näher.
Noch immer sah sie so aus, wie ich sie kennen gelernt hatte. Dieses kurze Kleid, die dünnen Strümpfe, als wäre sie mitten in der Nacht aus dem Bett geflohen, um sich irgendwo zu verstecken.
In ihren starren Augen entdeckte ich kein Leben. Das Haar zitterte unmerklich, der Mund stand halb offen. Sie hätte eigentlich auf mich wirken müssen wie die fleischgewordene Sünde, nur konnte ich mich mit dem Gedanken nicht anfreunden. Ich stand dieser Person neutral gegenüber.
Am Rand der Theke blieb sie stehen. Die Klinge ihrer Waffe zeigte nach unten. Noch klebte etwas Blut an der Spitze, die gegen den Fußboden stieß, sodass sich die rote Flüssigkeit dort zu einer kleinen Insel verteilen konnte.
Mich oder Wilma Lane schaute sie nicht an. Nur auf Sir Edgar Brake konzentrierte sie sich.
»Es hat lange gedauert, Edgar, aber glaube nicht, dass ich etwas vergessen habe. Nein, nicht ich. Ich habe überlebt, um mich rächen zu können. Du hast sie getötet. Fünf Männer hast du vergiftet und ihnen die Köpfe abgeschlagen, die nun vor dir liegen, damit du sie dir anschauen kannst. Kannst du dir überhaupt vorstellen, was es für mich bedeutet, einem fünffachen Mörder gegenüberzustehen? Denkst du darüber nach?«
»Nein, ich…«
»Warum, Edgar? Warum hast du es getan? Ich will jetzt und hier von dir die Antwort wissen.«
Er suchte nach einer Antwort. Dabei leckte er mit der Zungenspitze über seine Lippen, bewegte die Stirn, schuf Muster aus
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