063 - Die linke Hand des Satans
beging man an mir? Ich hatte das Bild noch so deutlich vor Augen, wie sie in ihrer Qual den Armstummel an ihre leeren Augenhöhlen gehalten und geschrien hatte.
Ich griff nach ihrer Linken, um sie unter ihrem Kittel hervorzuziehen. Im Hintergrund des Wohnwagens schrie jemand. Die Hand gab nach, obwohl ich das Gefühl hatte, sie hätte mich mit einer einzigen Bewegung gegen die Wand schleudern können. Mich fröstelte, als ich die unversehrte Linke sah - berührte.
Das Mädchen saß stumm und starr da, ließ mich zitternd ihre Hand betrachten.
Da tauchte ein Schatten auf. Ich erkannte das wutverzerrte Gesicht eines betagten Mannes. Er beschimpfte mich furchtbar und schlug mit seinen knochigen Fäusten auf mich ein. Das schüttere Haar stand unordentlich und in Strähnen von seinem Kopf ab.
Ich wehrte mich nicht. Seine Schläge taten nicht weh, denn in seinen Armen war nicht viel Kraft. Aber er warf mich Wehrlosen doch zu Boden und lag über mir.
Ich sah die Tränen in seinen Augen, während er enttäuscht und verzweifelt schrie: „Verdient es nicht! Verdient es nicht! Ich hätte Helenas Hände nicht den lüsternen Blicken anderer aussetzen dürfen. Ihnen ist nichts heilig."
Als er mir so nahe war und ein Sonnenstrahl durch das Oberlicht auf sein Gesicht fiel, da erkannte ich ihn sofort - obwohl er in den letzten neun Jahren um ein Jahrhundert gealtert schien.
„Doktor, erkennt Ihr mich denn nicht?" rief ich, während ich mich vor seinen Schlägen zu schützen suchte. „Ich bin es, Euer ehemaliger Schüler - Georg Rudolf Speyer. Dr. Faust, kommt doch zur Besinnung!"
Doch meine Worte konnten ihn nicht beruhigen. Er ließ erst von mir ab, als der Ausrufer hereinstürzte und ihn von mir zerrte.
Das Mädchen hatte sich in den hinteren Teil des Wohnwagens zurückgezogen.
Faust stand keuchend da, starrte ins Leere. Er blickte mich auch nicht an, als er sagte: „Seid Ihr es wirklich, Speyer? Ja, Ihr müßt es sein. Ihr habt Euch gar nicht verändert. Ich habe Euch noch genau in Erinnerung. Kommt, wir kehren alle gemeinsam nach Wittenberg zurück! Meine schöne Helena, mein Famulus Christoph Wagner - und Ihr, Speyer, als mein Gast."
Unter solch seltsamen Umständen fand unser Wiedersehen statt. Dr. Faust fand kein einziges Wort der Entschuldigung oder der Erklärung für sein Verhalten. Er tat, als sei zwischen uns nichts vorgefallen. Und als ich mich anschickte, eine Entschuldigung für mein ungestümes Eindringen vorzubringen, winkte Fausts Famulus ab. Der Vorfall war vergeben und vergessen.
Faust nahm mich so selbstverständlich in seinem Haus auf, als hätten nicht neun Jahre Trennung zwischen uns gelegen. Das allein zeigte schon seine seltsame Verhaltensweise. Für ihn bestand kein Grund für einen Austausch der Erinnerungen. Er tat auch so, als müßte ich sein Haus kennen, das er erst vor fünf Jahren bezogen hatte.
Als wir mit dem Wohnwagen vor seinem Haus ankamen, das am Rande der Stadt lag - ein großer, an drei Seiten von Mauern umgebener Fachwerkbau -, führte er wortlos das Mädchen durch den Eingang und hinauf in ihr Zimmer. Christoph Wagner brachte den Wagen in den Hof, schirrte die Pferde ab, versorgte sie und führte sie in den Stall. Er erledigte alle Arbeiten, die bei der Heimkehr nach längerer Zeit anfielen. Einen Knecht, eine Magd oder sonstige Bedienstete schien Faust nicht zu haben.
Ich stand ziemlich ratlos da und fand, daß mein rascher Aufbruch doch etwas unüberlegt gewesen war, denn meine meiste Habe befand sich noch in Rimlich, bei den Sachen meines Partners.
„Macht es Euch nur bequem!" sagte Christoph Wagner zu mir, als er in die Wohnstube kam und vor dem Kamin Holzscheite aufstapelte.
Um mich nützlich zu machen, entzündete ich im Kamin ein Feuer. Es war bereits behaglich warm, als Fausts Famulus zurückkam.
„Entschuldigt", sprach ich ihn an, „aber findet Ihr nicht, daß mir eine Aufklärung über das seltsame Verhalten des Doktors zustünde?"
„Das mag stimmen", gab er zu. „Aber geduldet Euch, bis es Dr. Faust selbst für nötig erachtet. Ach, Ihr werdet sicher hungrig sein. Im Speicher ist noch ein Stück des ganz ausgezeichneten Specks." Damit verschwand er wieder in der Küche. Ich konnte ihn verstehen. Wagner kannte mich überhaupt nicht. Und wenn er auch wahrscheinlich der einzige war, der mich über Faust aufklären konnte, so wollte er damit sicherlich so lange warten, bis er sah, wie ich zum Doktor stand. Wagner konnte mich vielleicht für einen
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