063 - Im Labyrinth des Ghuls

South Sea. Bracziskowsky wußte, daß der
Frachter in einer halben Stunde schon wieder draußen auf See sein würde.
Dominquez hatte ihm, Bracziskowsky und der vereinbarten Zahlung zuliebe, die Fahrt
des Schiffes gestoppt.
    Die Route der
South Sea verlief normalerweise ganz anders. Die Osterinsel wurde nicht
angelaufen. Dominquez’ Ziel waren die großen Inseln von Polynesien, Fidschi,
Viti Levu, Tahiti. Dort löschte er seine Ladung und nahm neue Ware an Bord, die
er wiederum nach Chile brachte.
    Bracziskowsky
stand eine Weile wie eine Statue bewegungslos am felsigen Ufer und starrte in
die Ferne. Würde er die South Sea, Dominquez, den witzigen José und Pancake,
den Koch, noch mal zu Gesicht bekommen?
    Er wußte nur
zu gut, daß ihn sein überhastetes Abenteuer unter Umständen Kopf und Kragen
kosten konnte.
    Ein wenig
müde machte er sich daran, auf dem steinigen Weg nach oben zu kommen. Das war
mühsamer, als dies zunächst schien. Der Aufstieg war steil, der Felsen nicht
immer ganz so massiv, wie er schien.
    Bracziskowsky
mußte höllisch aufpassen, daß er nicht in die Tiefe stürzte. Einzelne morsche
Brocken gaben unter seinen Griffen nach. Er mußte immer erst die Probe aufs
Exempel machen, ehe er es wagen konnte, sein Körpergewicht einzusetzen.
    Etwa dreißig
Meter hoch ging der natürliche Pfad und führte direkt auf ein glattes
Felsplateau, das wie eine Nase über die zerklüftete Landschaft unter ihm ragte.
    Außer Atem
kam er oben an.
    Es wurde
jetzt schnell dunkel. Zwar hatte er die Dämmerung in seine Pläne mit
einbezogen, aber er hatte nicht gewußt, daß die Dunkelheit so schnell über die
Insel hereinbrechen würde.
    Wenn er erst
mal im Tal war, dann machte ihm die Finsternis nichts mehr aus. Er brauchte nur
immer geradeaus zu gehen.
    Wenn
Karnhoffs Aussagen stimmten, dann war es von dieser Bucht aus nur ein Fußmarsch
von rund drei Kilometern. Aber das, was Franz Karnhoff erlebt hatte, lag mehr
als zehn Jahre zurück. Es war fraglich, ob es den geheimnisvollen Einsiedler Taikona
überhaupt noch gab.
    Erst jetzt,
während sich Bracziskowsky beeilte den Felsen herunterzukommen, kam ihm der
Gedanke, daß alles, was er gehört und gesehen hatte, auch auf eine
Halluzination zurückzuführen sein könnte! War er wirklich vor einer guten Woche
Zeuge der Tat eines Ghuls geworden?
    Bracziskowsky
schalt sich insgeheim einen Narren. Da war er Hals über Kopf von London
abgereist, hatte sich auf die andere Seite der Weltkugel bringen lassen, und
nun begann er an seinem eigenen Verstand zu zweifeln.
    Der harte
Boden knirschte unter den Schritten des einsamen Wanderers. Bracziskowsky trug
außer einer khakifarbenen kurzen Hose ein buntes, großkariertes Sporthemd. Es
war nicht mehr ganz frisch. Aber das störte ihn nicht.
    Obwohl er
sein Gepäck nur auf das Notwendigste beschränkt hatte, schien ihm das Gewicht
des Rucksacks und der Tragetasche immer größer zu werden.
    »Man wird
langsam alt«, murmelte Bracziskowsky leise vor sich hin. Seine Stimme und seine
Schritte waren das einzige Geräusch. Nach seinem Aufenthalt in London,
anschließend in Valparaiso, wo er den Inselausflug vorbereitete, und nach den
Tagen auf der South Sea empfand er die Ruhe und Einsamkeit dieses Eilandes noch
stärker.
    Bracziskowsky
richtete sich streng nach dem kleinen Kompaß, den er bei sich trug. Immer nach
Süden, dann mußte er an die Engstelle geraten. Zuvor aber war da ein kleiner
Bach, den er erreichen mußte. Hier würde sich zeigen, ob er wirklich auf dem
rechten Weg, oder ob alles nur ein schlechter Scherz war.
    Bracziskowsky
hatte tagelang eingehend die Karte dieser winzigen Insel studiert. Er hatte
auch alle Meldungen und Berichte verfolgt, um ganz sicher zu gehen, daß er
keinen Bezirk streifte, wo im Moment unter Umständen eine wissenschaftliche
Gruppe tätig war. Der wollte er auf keinen Fall begegnen. Auf der Osterinsel
fanden sich immer wieder Geologen, Archäologen und Historiker ein. Diese Insel,
die wie alle Inseln im Pazifik eindeutig vulkanischen Ursprungs war, unterschied
sich doch durch ein wesentliches Merkmal von den anderen: es gab hier die
gigantischen steinernen Götzenfiguren, deren Sinn und Zweck bis heute ungeklärt
war und von denen man nicht einmal genau wußte, wer sie hierhergebracht oder
errichtet hatte.
    Auch Karnhoff
und sein Vater waren vor über einem Jahrzehnt hier gewesen. Franz Karnhoff, der
Sohn, war nachweislich allein nach Deutschland zurückgekehrt.
    Bracziskowsky
ertappte sich