063 - Im Labyrinth des Ghuls
Wispern herabgesunken. »Aber als ich mich auf die
Insel bringen ließ, rechnete ich nicht damit, Sie hier zu sehen .«
Der Asket ihm
gegenüber erwiderte seinen Blick. Bracziskowsky sah in große, glänzende,
fragende Augen.
»Sie kennen
mich ?« reagierte der andere. Wie überrascht er war,
sah man ihm an. Dabei kam der Ausdruck, daß er offensichtlich schwachsinnig
war, noch stärker zum Vorschein.
Bracziskowskys
Pulsschlag beschleunigte, als er daran dachte, auf was für eine Entdeckung er
gestoßen war.
Er erkannte
die Folgen, die das haben würde, in ihrer ganzen Konsequenz.
Dieser Mann
vor ihm durfte normalerweise gar nicht mehr am Leben sein. Nach dem jedenfalls
nicht, was er über das Leben von Franz Karnhoff, den Ghul, bisher
zusammengetragen hatte.
In Begleitung
seines Vaters, des Archäologen Johann Karnhoff, war Franz Karnhoff, ebenfalls
Archäologe, vor über zehn Jahren zu einer Reise um die Welt angetreten. Auf
dieser Fahrt war Johann Karnhoff gestorben. So jedenfalls lautete die
offizielle Berichterstattung.
Aber für
Bracziskowsky gab es in diesem Augenblick keinen Zweifel daran, daß der tote
Johann Karnhoff zwar gealtert und schwachsinnig, aber lebend vor ihm stand!
»Sie sind
Johann Karnhoff !«
Janosz
Bracziskowsky beobachtete sein Gegenüber.
Der seltsame
Einsiedler, der sich hier in einer üppigen Wildnis auf einen Berg zurückgezogen
hatte, sah ihn an wie einen Geist.
»Sie irren«,
entgegnete er tonlos. »Sie verwechseln mich…« Er lachte kindisch. »Ich habe den
Namen nie gehört .«
Janosz
Bracziskowsky erkannte, daß es nicht viel Sinn hatte, den Alten in ein Gespräch
dieser Richtung zu führen.
Der Mann
umkreiste ihn, als wäre er ein seltenes Exemplar von Wild, das er zufällig aufgespürt
hatte.
»Ich bin in
friedlicher Absicht gekommen«, erwähnte Bracziskowsky. Er kam sich wie ein
Seefahrer vor, der nach einer langen Reise endlich Land erreichte und dabei auf
Eingeborene stieß, die nie zuvor ein Exemplar seiner Rasse gesehen hatten.
»Ich richte
mich nach meinem Gefühl«, antwortete Johann Karnhoff.
Er trug eine
zerrissene Hose, aus der seine dünnen Beine knochig und sehnig herauswuchsen.
Der Oberkörper war frei. Die Brustknochen und die Rippen zeichneten sich unter
der ledernen Haut ab.
»Aber Sie
scheinen recht zu haben. Sie sind nicht bewaffnet ?«
»Nein«, sagte
Bracziskowsky wahrheitsgemäß. Dann fügte er hinzu, daß er eigentlich Taikona
suche… »Wer sind Sie ?« schloß er, als der Asket keine
Reaktion zeigte.
»Ich?« Zum
ersten Mal seit ihrer Begegnung fiel Bracziskowsky auf, daß der Mann unsicher
wurde und stockte. »Ich… weiß nicht .«
Diese
merkwürdige Antwort gab dem Schriftsteller zu denken.
Die folgenden
Minuten waren damit ausgefüllt, daß sich der andere davon überzeugte, daß
Bracziskowsky wirklich nicht bewaffnet war.
Der
Schriftsteller hielt die Unterhaltung aufrecht. Für ihn gab es keinen Zweifel,
daß er es mit Johann Karnhoff zu tun hatte. Der Mann mußte das Gedächtnis
verloren haben. Hing es mit dem Schicksal seines Sohnes zusammen, daß dies
geschehen war?
Instinktiv
fühlte Janosz Bracziskowsky, daß er vor einigen neuen Rätseln stand.
Warum hatte
der Deutsche nie den Versuch unternommen, wieder in seine Heimat
zurückzukehren? Weshalb hatte Franz Karnhoff den Tod seines Vaters verbreitet?
Warum sprach Karnhoff abfällig über Taikona? Dies waren nur einige von
zahllosen Fragen, die sich Bracziskowsky aufdrängten.
Er sah aber
ein, daß es noch zu früh war, jetzt weiter in den Mann zu dringen. Wichtig
allein war im Augenblick, daß er das Vertrauen des Schwachsinnigen gewann. Der
Mann war kein Killer, aber er würde vor einem Mord nicht zurückschrecken, wenn
er das Gefühl hatte, daß er hintergangen wurde oder gefährdet war.
Bracziskowsky
war ein Menschenkenner und besaß das nötige Einfühlungsvermögen.
Nach einer
halben Stunde saß er bei dem Schwachsinnigen am Feuer und erfuhr, daß ihn der
Mann schon die ganze Zeit über beobachtet hatte. Jeder Fremde, und die tauchten
hier nicht in Massen auf, fiel natürlich auf.
Trotz seines
geistigen Schadens dachte Karnhoff auf der anderen Seite erstaunlich logisch.
So bekam
Bracziskowsky zu hören, daß sein geheimnisvoller Beobachter das Feuer
absichtlich angebrannt hatte, um Bracziskowsky anzulocken.
Das
ungezwungene Gespräch, das sich in der nächsten halben Stunde ergab, trug viel
dazu bei, daß das Mißtrauen des Inselbewohners abgebaut wurde. »Was
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