0630 - Das Tengu-Phantom
Bewegungen wirkten matt. Dennoch trat er voller Wut die Kleiderstange aus Messing zur Seite. Sein Gesicht sah lädiert aus. Zwischen Wange und Stirn schimmerte die Haut bläulich. Der Fleck endete in einer Schramme.
»Er ist aus dem Fenster gesprungen, Alter. Einfach so.« Ich starrte Suko an.
»Und Isanga?«
»Der ist tot.«
»Er hat es gewusst«, flüsterte mein Freund und strich über seine malträtierte Stelle am Gesicht. »Der hat genau gewusst, dass er hier in London sterben würde.«
»Dennoch ist er gekommen.«
»Ja, es war seine letzte Pflicht. Er hat uns vor dem Club der weißen Tauben und den Tengus gewarnt. Mehr konnte er nicht tun, John.« Suko setzte sich auf das Bett. Ich will nicht sagen, dass Angst in seinem Blick lag, aber der Ausdruck war auch nicht weit davon entfernt. Vielleicht auch Unbehagen und das Gefühl, ein Verlierer zu sein. »Wenn der besser getroffen hätte, John, wären wir tot.«
»Oni?«
»Ja, die dämonische Kampfkunst, die allein mit den Händen geführt wird. Sie ist furchtbar.« Suko erhob sich schwankend. »Bisher war sie auf Asien begrenzt, jetzt aber…«
Ich sah, dass er sich zur Tür wandte und hielt ihn mit einem Ruf auf. »Moment noch, hier in der Gondel liegt jemand.«
»Noch ein Toter?«
Ich antwortete ihm erst, als ich den jungen Mann untersucht und aufgeatmet hatte. »Nein, er ist nicht tot. Er lebt, ist nur bewusstlos.«
»Welch ein Glück für ihn.«
Gemeinsam schleppten wir den jungen Mann ins Zimmer, wo er seinen Platz auf dem Bett fand.
Der Hieb hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen. Seine linke Gesichtshälfte zeigte eine rotblaue Färbung.
»Wir müssen trotzdem nach unten«, drängte Suko.
Ich warf zuvor noch einen letzten Blick in die Tiefe. Der Vorgang war nicht unbeobachtet geblieben. Zahlreiche Menschen umstanden die Aufschlagstelle. Ihre lauten Stimmen glitten als Echos an der Fassade des Hotels hoch.
Wir nahmen den Lift. Suko sah ziemlich ramponiert aus, auch ich fühlte mich nicht gerade wie frisch aus der Sauna kommend. »Wie geht es dir?«
»Der Kopf ist noch dran, John.«
»Beim nächsten Mal wissen wir Bescheid.«
Sukos Blick sah mitleidig aus. »Beim nächsten Mal, John? Sag mir, wie du einen Tengu stoppen willst. Das schaffst du nicht.«
»Nur mit Feuer.«
»Aber kein Streichholz.« Suko verließ als Erster den Lift. In der Halle herrschte ebenfalls Aufregung. Einer der Geschäftsführer lief mit hochgereckten Armen umher, den Blick immer wieder gegen die Decke gerichtet.
Wir wussten, wo wir den Toten finden konnten, und gingen hin. Mittlerweile war der Ring der Neugierigen noch dichter geworden. Jemand hatte eine Decke über den Japaner ausgebreitet. Wir hörten auch, dass jemand die Polizei alarmiert hatte, ansonsten spitzten wir die Ohren, um auch andere Kommentare mitzubekommen.
Ein Kellner hatte den Tengu gesehen. Er sprach so laut, dass wir es hören konnten.
»Ich sage euch, der ist gesprungen und weggelaufen.«
»Wo kam er denn her?«
Der Kellner deutete in den Himmel. »Von oben. Der - der fiel einfach vom Himmel.«
»Mehr aus dem Fenster, wie?«
»Ja, aber der eine ist tot. Der andere nicht. Der sah aus wie ein Monster. Schwarz, nur die Arme waren hell.«
»Wo ist er denn hingelaufen?« Ich hatte mich nahe an den Sprecher herangeschoben.
Der junge Mann strich sein Haar zurück. »Das kann ich Ihnen sagen.« Er drehte sich um und deutete über die vierspurigen Park Lane hinweg, die an der Ostseite des Parks entlangführte. »In den Park ist er gerannt. Einfach so, über die Straße weg, dann war er verschwunden.«
Ich schaute Suko an, der die Schultern hob. Wir waren beide der Meinung, dass es keinen Sinn hatte, eine große Fahndung nach ihm anzukurbeln. Wenn der Tengu wollte, fand er immer das richtige Versteck, und wenn er sich dabei in die Erde eingrub.
Dann erschienen die Kollegen. Zwei von ihnen kannten uns. Sofort wurden wir angesprochen.
»Ist das Ihr Fall?«
»Ja«, sagte Suko.
»Dann müssten wir den Yard…«
»Bitte, tun Sie das.« Suko sprach mit kraftloser Stimme. So hatte ich ihn selten reden gehört. Der verdammte Tengu musste ihn ziemlich brutal erwischt haben, wobei er auch an der Psyche meines Freundes gerüttelt hatte.
Auch ich spürte Übelkeit im Magen. An einer der Hotelbars bekämpfte ich das Gefühl mit einem doppelten Whisky. Von dort rief ich auch Sir James an, der den Vorgang schweigend zur Kenntnis nahm und sich nur erkundigte, wann wir eintreffen würden.
»Ist Ihr Besuch
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