0631 - Eine Handvoll Monster
würde ohnehin erst vor Ort und spontan entscheiden müssen, was zu tun war.
Etwa sechs oder sieben Kilometer vor dem kleinen Dorf stand sie am Straßenrand, hob den Daumen.
Schon das erste Fahrzeug stoppte. Ein weißer Fiat Fiorino - ein Transporter auf Kleinwagenbasis mit großem Kastenaufbau. Schon etwas betagt, mit deutschem Kennzeichen. Ein junger Mann beugte sich herüber und entriegelte die Beifahrertür. Stygia zog sie auf.
»Wohin soll's gehen?« fragte der junge Mann mit starkem deutschen Akzent.
»Erst mal ins nächste Dorf«, bat Stygia. »Vielleicht gibt's da ein Gasthaus und ein Telefon.«
»Lohnt sich ja kaum, die kurze Strecke«, sagte der Fahrer. »Komm rein. Ich bin Andreas.«
»Und ich Sylvia«, log die Dämonin.
Er fuhr an. »Hat dich unterwegs einer geärgert?«
»Und rausgeworfen, weil ich mich nicht ärgern lassen wollte«, sagte sie. »War nicht mein Typ und wollte das nicht einsehen.«
Er nickte.
»Mädchen wie dich darf man nicht ärgern«, sagte er. »Willst du wirklich nur zum nächsten Dorf?«
»Erst einmal.«
»Ich fahre noch ein kleines Stückehen weiter«, bot er an. »Nicht sehr weit - nur bis Paris. Falls du mitwillst…«
»Nicht sehr weit«, echote sie. »Ja, sicher. Ist ja ein Katzensprung.«
»Eben.«
Menschen hatten schon einen seltsamen Humor. Das ›kleine Stückchen‹, wie Andreas es genannt hatte, waren annähernd fünfhundert Kilometer.
»Was soll ich in Paris?« fragte sie.
Im nächsten Moment trat Andreas schon wieder auf die Bremse.
»Ich werd' verrückt…«
»Sei nicht so leichtfertig mit deinen Versprechungen«, warnte Sylvia-Stygia.
»Was, zum Teufel, ist das?« stieß er hervor und deutete auf das eigenartige Etwas, das sich am Straßenrand bewegte.
»Ein Drache«, stöhnte Stygia überrascht auf.
***
Zamorra zuckte zusammen, als sich der Strahlschuß löste. Aber nicht das schrille Fauchen eines Laserschusses erklang, sondern das Knacken und Fauchen der betäubenden Schockenergie. Calderone brach wieder zusammen.
Nicole ließ die Hand mit der Waffe sinken. Unbemerkt von Calderone hatte sie die Waffe wieder auf den Betäubungsmodus zurückgeschaltet gehabt. Der Mann mußte wirklich geglaubt haben, daß Nicole ihn erschoß.
»Ein verdammt gefährliches Spiel, das du da durchgezogen hast«, kritisierte Zamorra. »Sogar ich habe es dir abgenommen. Kannst du dir vorstellen, daß seine Fantasie ausreicht, ihm vorzugaukeln, er sei wirklich erschossen worden - und daß sein Gehirn daraufhin alle Lebensfunktionen abschaltet? Oder er vor Schreck einen Herzschlag bekommen hat?«
»Der nicht«, erwiderte Nicole trocken.
Sie sah Zamorra an.
»Ich weiß, woran du denkst. Es hat ähnliche Fälle gegeben. Als es die Sowjetunion noch gab, hat der Geheimdienst damit experimentiert. Dem Delinquenten wurde per Hypnose vorgegaukelt, er würde hingerichtet, woraufhin er dann auch als braves zweibeiniges Versuchstierchen prompt starb. Aber du weißt doch selbst, daß das Zufallstreffer im wahrsten Sinne des Wortes waren. Und Calderone ist eine gefestigte Persönlichkeit. Was seine Fantasie angeht -da bin ich überzeugt, sie erstreckt sich nur auf das Ausdenken neuer Gemeinheiten und Fallen. Okay«, winkte sie ab. »Ein Vorurteil. Aber wir kennen ihn bisher nur aus der Opferperspektive. Diesmal sind aber wir die Gewinner. Vielleicht bringt mich das dazu, meine üblen Vorurteile abzubauen?«
»Calderone hat recht. Du hältst zu lange Reden«, brummte Zamorra. »Zumindest momentan.« Er beugte sich über den Killer und untersuchte ihn kurz. »Er lebt noch.«
»Nichts anderes habe ich erwartet. Was machen wir jetzt mit ihm? Bringen wir ihn tatsächlich ins Dorf zu Mostache?«
Zamorra nickte.
»Das Zimmer werden wir magisch absichern, daß er nicht hinaus kann. Ich halte das für die zunächst einzig durchführbare Maßnahme. Denn ihn hier im Château oder im Beaminster-Cottage festzusetzen, lehne ich ab. Dafür müßte ich hier wie dort die M-Abwehr ausschalten, damit er hereinkommt. Und selbst wenn sie sofort danach wieder aufgebaut wird - vielleicht reichen Stygia die paar Sekunden schon aus, selbst einzudringen. Außerdem: er sendet eine dämonische Aura aus. Selbst wenn er kein Dämon ist, sondern nur von einem Dämon besessen, reicht das schon. Ich möchte nicht, daß er weitgehend unkontrolliert durchs Château tobt.«
»Und wenn er durch Mostaches Haus tobt?«
»Risiko«, sagte Zamorra. »Ein Punkt für dich. Trotzdem will ich ihn nicht hier haben.
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