0644 - Der Leichenfürst von Leipzig
tun. Wir sind hier überlastet.«
»Okay, dann bleibt uns nur die Fahndung.«
»Ja, aber das ist nicht meine Sache.«
»Weiß ich«, sagte ich und bedankte mich bei dem Mann im Kittel, bevor ich mich wieder an Harry wandte. »Sie haben zugehört?«
»Natürlich.«
»Können wir die Fahndung anlaufen lassen?«
»Kommen Sie mit.«
Wir fuhren wieder hoch. Nicht bis zu seinem Büro, sondern in eine andere Abteilung, die technisch zwar nicht auf dem neuesten Stand war, aber effektiv arbeiten konnte, wie man mir erklärte. Den Polizeidienststellen in Leipzig wurde die Beschreibung durchgefaxt, sofern sie mit einem Telefax ausgerüstet waren. Alles andere erledigten wir per Telefon.
In Schweiß gebadet ließ sich der Kommissar auf einen Stuhl fallen. Er schaute zu mir hoch und bat um eine Zigarette. »Ich rauche zwar nicht viel, aber jetzt brauche ich eine.«
»Klar.«
Stahl starrte nachdenklich vor sich hin. »Bald kommt der Abend, und in dieser Stadt gibt es zahlreiche Verstecke, John. Da kann er sich verkriechen, und wir können suchen, bis wir schwarz werden.«
»Ich bin mir nicht einmal so sicher, ob er sich verkriechen will, Harry.«
»Nicht?«
»Nein. Ich glaube kaum, dass Mischke wie ein tumber Zombie durch Leipzig rennen will. Der hat etwas anderes vor. Davon bin ich überzeugt. Es steckt System dahinter. Unser Freund ist nicht grundlos verschwunden, das können Sie mir glauben.«
»Der Schatten?«
»Oder van Akkeren. Beide treiben ein perfides Spiel. Ich weiß nur nicht, in welche Richtung es läuft.«
Harry Stahl schüttelte den Kopf. »Leichentanz in Leipzig«, murmelte er voller Galgenhumor. »Verdammt noch mal, was da nicht alles auf uns zugekommen ist, seit die Grenze nicht mehr existiert.«
»Nicht nur Vorteile, Harry.«
»Leider, John, leider.«
Ich enthielt mich einer Bemerkung. Erfreut war ich nicht, denn wir konnten nichts anderes tun als warten…
***
Plötzlich war die Luft dicker. Sie schien wie ein Schwamm im Zimmer zu stehen. Jeder Laut wurde aufgesaugt. Der Schreck des Erlebten saß tief.
Suko rührte sich nicht, obwohl er soeben etwas Unfassbares erfahren hatte.
Die Tote war zurückgekehrt. Erika Meinhardt stand vor ihrer Nachbarin und begehrte Einlass.
Wahrscheinlich begriff Grete Schulz die Tragweite des Ganzen noch nicht, wie hätte sie sonst so unbeweglich dastehen und die Besucherin anschauen können?
Suko sah die Dinge anders. Er hatte seine Erfahrungen mit den lebenden Toten, den Zombies, gesammelt. Ihn konnte so leicht nichts mehr aus der Bahn werfen, obwohl er zugeben musste, dass er damit auch nicht gerechnet hatte.
Grete Schulz hatte Erika eine Frage gestellt, aber keine Antwort erhalten. Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch der weibliche Zombie drückte die Tür auf.
Obwohl Grete sie festhielt, schob Erika die Tür auf und auch die Frau nach innen.
In ihrer schlichten Kleidung sah sie einfach furchtbar aus. Man konnte Angst vor ihr bekommen. Sie trug ein helles Leichenhemd aus einem sackähnlichen Stoff, der um ihre Figur flatterte. Die Gesichtshaut zeigte eine bleiche Grundfarbe mit einem bläulichen Schimmer darüber, der bis hoch zu den Augen reichte, in denen kein Gefühl mehr zu lesen war, weil sie völlig glanzlos waren. Die Haare auf dem Kopf bildeten einen Wirrwarr, als wären zahlreiche Finger durch sie gefahren.
Sie ging vor. Einen Schritt, den zweiten…
Grete Schulz ging zurück. Sie behielt das Tempo bei, die Distanz änderte sich nicht. Doch sie hatte es jetzt geschafft, sich zu überwinden und eine Frage zu stellen. »Erika - Himmel - du - du bist doch tot. Du bist tot!«, schrie sie. »Ich - ich habe es selbst gesehen, wie man dich umbrachte.«
Es sah so aus, als würde Erika Meinhardt den Kopf schütteln. Das konnte aber auch eine Täuschung sein, so genau hatte der Inspektor das nicht mitbekommen.
Für ihn allerdings stand fest, weshalb Erika wieder in das Haus gekommen war. Sie wollte eine Zeugin aus dem Weg schaffen. Alle Spuren mussten verwischt werden.
Und dann griff sie zu. So schnell, dass selbst Suko überrascht wurde. Die lebende Tote hatte Glück, dass Grete Schulz gegen den Tisch gestoßen war und nicht weiter kam.
Die Totenhände packten sie. Grabkalte Klauen, die sich auf Gretes Schultern legten.
Frau Schulz öffnete den Mund. Ein Schrei wollte ihr nicht über die Lippen.
Und Erika drückte zu. Spielerisch leicht mutete es an, wie sie es schaffte, die ehemalige Nachbarin nach hinten zu pressen und rücklings auf den
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