0648 - Die Stunde des Ghouls
Oberghoul. Das hat uns gerade noch gefehlt. Was glaubst du, was los ist, wenn wir den ausschalten? Dann hängt man uns einen Polizistenmord an! Chef, mir reicht es, daß die Odinsson-Akten immer noch hier und da existieren, auch wenn das alles längst Schnee von gestern ist. Aber wenn irgendein rückständiger Staatsanwalt irgendwo auf der Welt über diese Akten stolpert und noch nicht mitbekommen hat, daß Interpol sie längst zurückgezogen hat, kriegen wir immer noch gewaltigen Ärger wegen der zahlreichen ungelösten Fälle mit angeblich ermordeten Menschen, die in Wirklichkeit Dämonen waren. Ich habe was dagegen, daß uns hier noch so ein Fall angehängt wird.«
Zamorra schüttelte den Kopf. »Jorge Gormon verschwindet lediglich und wird als vermißt gemeldet, das ist alles. Schließlich glaubt Cordobez nicht an Ghouls. Also wird man uns beide nicht mit Gormon in Verbindung bringen.«
»Aber Cordobez wird sich erinnern, daß wir nach Gormon gefragt haben«, mahnte Nicole.
»Dann sorgen wir dafür, daß wir erst gar nicht mit ihm Zusammentreffen. Es müssen uns so viele Leute wie möglich dabei sehen, daß wir uns erst gar nicht länger hier in El Palmito aufhalten, sondern von der Tür des Polizeipostens aus sofort den Ort verlassen.«
»Aber unsere Hotelbuchung… unser Gepäck…«
»Die Reisetasche befindet sich noch hier im Kofferraum«, sagte Zamorra. »Ich wollte erst die Zimmerfrage klären und dann ausladen, aber die Diskussion dauerte eine Ewigkeit… jetzt gut für uns. Wir brauchen also nicht ins Hotel zurück, können sofort verschwinden. Unsere Pässe hat man uns nicht abverlangt, also hindert uns nichts.«
»Und Gormon? Wenn er hier ist, hätten wir mit ihm doch schon den Drahtzieher des Ganzen.«
»Er wird nicht hier sein. Er war in der Nacht nicht hier, obgleich er Dienst hatte; er wird auch jetzt bei seinen Artgenossen sein. Wenn wir ihn da nicht erwischen, können wir später immer noch nach ihm suchen. Jetzt aber sollten wir verschwinden.«
»Ich wüßte da was, wie wir dabei unbedingt auffallen und sich später alle daran erinnern, daß wir vom Polizeiposten aus sofort aus dem Ort hinaus sind, ohne Aufenthalt…«
»Und das wäre?«
»Könnte zwar«, murmelte sie, »auf andere Weise etwas Ärger geben, ist aber garantiert wirkungsvoll. Wetten, daß? Schön, daß die Reisetasche noch hier ist.«
Sie öffnete den Kofferraum des Mietwagens und die Reisetasche, fischte ihren zusammengefalteten Lederoverall heraus, ihren »Kampfanzug«, wie sie ihn zu nennen pflegte. Dann streifte sie ihr Kleid ab, bewegte sich ein paar sehr lange Augenblicke nur mit einem knappen Slip bekleidet neben dem Wagen und legte dann den schwarzen Overall an. Dazu den Gürtel mit der Magnetplatte, an der die Strahlwaffe haftete.
Aufmerksamkeit hatte sie damit jedenfalls genug erregt. Eine Menge Passanten war stehengeblieben und hatte ihrer öffentlichen Umkleide-Aktion mit weit offenen Augen und Mündern zugeschaut. Die Männer begeistert, die Frauen entgeistert, aber alle mehr oder weniger entrüstet. Nicole vertauschte noch Pumps mit Stiefeln, rollte das Kleid zusammen, warf die Sachen einfach in den Kofferraum und knallte dessen Deckel zu. Dann ließ sie sich auf den Beifahrersitz des Mondeo fallen.
Zamorra war ebenfalls eingestiegen, und fuhr los.
»Ist dir aufgefallen, daß der andere Wagen nicht mehr vorm Hotel parkte? Was zum Teufel hat Ombre vor?« fragte er.
Nicole sah sich um. »Tatsächlich, er ist weg. Wird vermutlich schon vorausgefahren sein. Ein ungeduldiger Mensch, und er hat ja seinen schleimigen Fremdenführer bei sich - garantiert.«
»Hoffentlich hängen sie später nicht ihm die Sache mit Gormon an«, überlegte Zamorra.
»Ich schätze, er wird damit leben können. Du gehst also davon aus, daß wir Gormon - daß wir alle Ghouls erwischen?«
»Ich gehe davon aus, daß wir alle Hände voll zu tun haben, Yves aus der Scheiße zu befreien, in die er sich mal wieder 'reinreitet. Es wäre ja nicht das erste Mal, daß er seinem bodenlosen Leichtsinn freien Lauf läßt. Er hat ein wenig über Magie gelernt und glaubt seither, es mit allem und jedem aufnehmen zu können. Dieser rachsüchtige Narr…«
Die Straße führte schnurgeradeaus aus dem Ort hinaus. Zamorra hielt nicht mehr an, beschleunigte schließlich und fuhr so rasch weiter, wie es der holperige Straßenzustand erlaubte.
Im Rückspiegel sah er durch einen leichten Staubschleier immer noch die Zuschauer, die hinter dem Wagen her
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