065 - Der Geisterreiter
beschützt hatte. Sie zählten nicht mehr, wie oft der eine dem anderen das Leben gerettet hatte. Es war zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
„Unsere Waffen sind hier. Wir werden sie nach der Rache schleifen müssen.“
„Ein Fürst schleift Waffen?“ erkundigte sich Sheng verwundert.
„Er tut die Arbeit Unwürdiger, wenn keine Sklaven in der Nähe sind“, flüsterte Torras.
Draußen wurde die schauerliche, fremde Musik lauter. Gläser klirrten. Das Feuer prasselte, Funken sprangen nach allen Seiten. Die Stimmen der fünf Grabräuber sagten fremde und bekannte Dinge. Sie waren vollkommen ahnungslos, diese Krieger. Seltsamerweise waren sie nicht bewaffnet. Sie schienen sich absolut sicher zu fühlen.
Fremde Kampfwagen standen auf dem Platz. Ihre Tiere schienen im Wald zu sein oder außerhalb des kleinen Lagers zu grasen.
Immer wieder erhellten Blitze die Nacht. In diesen kurzen, allzu flüchtigen Sekunden sahen Torras und Sheng den größten Teil des Lagers und prägten sich den Standort der Kampfwagen und des Zeltes ein, um für den Überfall gerüstet zu sein. In Gedanken suchten sie sich bereits die Waffen unter den Stücken aus, die sorgsam um sie herum aufgestapelt waren.
Mehr und mehr kehrte die alte Kraft in ihre Körper zurück.
Das Gewitter näherte sich.
„Hörst du es, Herrscher?“ wisperte Sheng. Seine Muskeln spannten und lockerten sich.
„Donner aus dem Norden“, erwiderte der Fürst leise. „Es ist der richtige Tag und die richtige Stunde, um die verborgenen Kräfte wirksam werden zu lassen!“
Torras von Nymada erinnerte sich an die Weissagung bei seiner Geburt. Eine gebückte, zahnlose Alte – als Hexe bekannt und als Wahrsagerin verschrien – hatte der staunenden Menge verkündet, daß aus diesem Knaben ein grausamer, aber guter Herrscher werden würde, dem drei Leben geschenkt seien.
Der Fürst glaubte an diese Vorhersage, denn als Kind war er schon einmal ins Wasser gefallen und beinahe ertrunken. Einen halben Tag hatte er wie tot dagelegen, dann waren seine Lebensgeister wieder erwacht. Jahre später, als er zum Krieger herangereift war, hatten ihn die Feinde auf dem Marsch nach Westen fast getötet. Vier Tage lang hatte man ihn auf der Schleifbahre von einem Pferd hinterher ziehen lassen und an seiner Genesung gezweifelt. Aber er war wieder gesund geworden und hatte weitergekämpft, als sei nichts geschehen. Nun würde sein drittes und letztes Leben beginnen.
„In zwei Stunden sind wir frei“, hörte er Sheng sagen, der sich in den heiligen Binden streckte, mit denen man seine Glieder umwickelt hatte. Er trug noch die prächtige Rüstung am Leib, mit der er begraben worden war – festgegürtet mit breiten Lederbändern.
„Länger kann es nicht mehr dauern!“ versprach der Hunnenfürst grimmig.
„Ich bin gerüstet!“
Sie warteten weiter, regungslos und mit offenen Augen, von Kopf bis zu den Zehen eingehüllt. Noch heute strömten die Binden einen wohltuenden Geruch aus. Langsam steigerte sich die Kraft in ihnen. Diese geheimnisvolle, nur den Alten bekannte Kraft aus den Wolken, die man kaum fühlen und nur in den Zeichen der Blitze wahrnehmen konnte, erfüllte sie mit wachsender Vorfreude. Bald würden sie sich bewegen, ihre Glieder regen können und von der Fessel der Starre befreit sein.
Die Ströme aus Erde und Luft – nur an diesem Tag des Jahres wirksam-vereinigten sich geheimnisvoll und lautlos in den Körpern der beiden Krieger und erfüllten sie auf wunderbare Weise mit neuer Energie.
Langsam erhob sich Torras, der Fürst, in sitzende Haltung. Er hörte, wie die breiten Binden über seinen Armen und dem Brustkorb rissen. Er holte tief Luft. Mit jedem Atemzug pumpte er die neu erwachte Kraft in die mächtigen Schultermuskeln, in die Arme und Muskelstränge des Halses.
Noch immer feierten die Männer dort draußen. Langsam begann es nach Fleisch und brennendem Holz zu riechen. Auch der Duft roten Weines, eines leichten Weines, stieg in die Nase des Fürsten.
Schlagartig wurden Erinnerungen dabei wach: Nächte an lodernden Lagerfeuern, wilde Ritte mit den Kampfgefährten, Pokale voller Wein und die köstlichen, knusprig gebratenen Schweine und Hirsche am heißen Spieß. Kämpfe, Verluste und Siege. Pferde, die mit hämmernden Hufen über weite Ebenen und durch finstere Wälder gesprengt waren.
„Das alles wird neu beginnen! Ich fühle es! Ich weiß es!“ stieß der Fürst hervor, von seinen Vorstellungen übermannt.
„Ich habe dich nicht
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