065 - Der Geisterreiter
nachzudenken. Während wir uns liebten, dachte ich vage an das, was wir in sechzig Minuten erfahren würden. Vermutlich bewies es, daß Jürgen und ich keine Phantasten waren.
Als ich Schlüter die Haustür öffnete, erschrak ich. Er sah aus, als hätte er eine Prügelei hinter sich. Über seiner Stirn klebte ein breites Pflaster, durch das in der Mitte etwas Blut gesickert war. Er hinkte ein bißchen und ächzte, als er seinen Uniformrock auszog.
„Ist Herr Sander schon wach?“ fragte er nach einem schweigenden Blick auf meine Leinenhosen und den dünnen Pulli, unter denen ich nichts trug.
„Sie brauchen nicht so anzüglich zu schauen“, sagte ich. „Dort entlang.“
„Entschuldigung …“, murmelte er.
Ich kann es nicht leiden, wenn sich Vaters Bekannte oder Mutters Freundinnen als Tugendwächter aufspielen.
Jürgen saß auf der Couch, und auf dem kleinen Tisch standen schon Tassen und Gläser. Ich goß den Kaffee ein und Jürgen den Kognak. Schlüter wirkte nicht nur sehr erregt, sondern er sah aus wie einer, der von Gespenstern heimgesucht worden war. Noch jetzt zitterten seine Finger, und sein Gesicht war grau.
„Sie wollten mich sprechen?“ erkundigte sich Jürgen.
Schlüter kippte den Kognak hinunter und setzte das Glas hart ab. Er sah mich an, dann ging sein Blick zu Jürgen hinüber. Wir beide hatten in den vergangenen Tagen genügend oft mit ihm zu tun gehabt.
„Wir sind überfallen worden!“ sagte er endlich.
„Und?“ Jürgen zog das Wort künstlich in die Länge. Schlüter schien Hemmungen zu haben, weiterzusprechen.
„Sie haben recht!“ stieß Schlüter hervor. „Es waren die beiden … Mumien. Wenigstens sahen die Männer so aus. Sie haben, als sie mit unseren Gewehren wegritten, Christina mitgenommen. So etwas habe ich noch nie erlebt.“
„Wir auch nicht!“ meinte ich trocken und mit deutlicher Ironie. „Wie war es nun wirklich? Der Reihe nach, bitte!“
Schlüter hob mit zitternden Fingern die Kaffeetasse, trank geräuschvoll und sagte dann leise: „Also, es war fast Mitternacht …“
Nur noch drei Beamte befanden sich in der kleinen Polizeiwache, die eifrig damit beschäftigt waren, Einzelheiten zu dem fünffachen Mord zusammenzutragen. Auf dem großen Schreibtisch des Kommissars häuften sich die Anfragen aus allen Teilen der Bevölkerung, Fernsehteams wollten Informationen, mußten abgewimmelt werden. Es war kein Ende abzusehen. Schlüter war froh, daß sein Dienst in drei Minuten zu Ende ging.
Mainer hob den Kopf und sah unter seiner Schreibtischlampe zu seinem Vorgesetzten hinüber.
„Machen Sie Überstunden, Chef?“
„Was bleibt mir anderes übrig! Verdammt, sehen Sie sich die Akten an!“
„Thomas!“ sagte der dritte Beamte, der eben die Thermosflasche zuschraubte. Schlüter warf einen langen, sehnsüchtigen Blick auf den Plastikbecher.
„Ja, was gibt’s?“
„Wir müssen auf Streife! Es ist gleich zwölf!“
„Komme sofort!“
Vor der Station warteten zwei Einsatzwagen. Die Stadt lag in tiefstem Frieden, als sei nichts geschehen. Von der Angst, die hinter den Mauern um sich griff, war nichts zu spüren. Schlüter hob den Kopf und blickte aus seinen Akten hoch.
„Paßt bloß auf!“ sagte er zu den beiden jüngeren Beamten. „Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl.“
Thomas Mainer warf ihm einen Blick zu, in dem eine deutliche Spur Mitleid oder Unverständnis enthalten war.
„Keine Sorge. Wir werden schon nicht von den archäologischen Hunnen überfallen werden!“
Als die Beamten ihre Dienstwaffen umschnallten und den Raum verließen, steckte sich Schlüter eine Zigarette an und stand auf. Die Lehne des Schreibtischstuhles kippte gegen die Wand. Langsam folgte der Kommissar den Beamten.
„Die große Tour!“ sagte der eine. Mainer sperrte den Wagen auf und langte hinüber, um die andere Tür zu öffnen. Schlüter stand neben den Stufen des Eingangs und zog an seiner Zigarette. Drei große, gelbe Vierecke zeichneten sich auf dem Kies vor dem Gebäude ab. Das Licht spiegelte sich schwach auf den Scheiben und dem Lack der Dienstwagen.
Schlüter meinte halblaut: „Ich bin ungefähr noch eine Stunde lang hier. Auf keinen Fall länger!“
„Okay“, sagte Mainer. „Wir halten uns daran.“
Von rechts hörte Schlüter plötzlich ein kurzes, pfeifendes Geräusch. Ein helles, fauchendes Schwirren. Es brach mit einem dumpfen Laut ab. Bohle schrie auf und wurde vom Wagen weggerissen oder weggeschleudert. Ehe er rückwärts in
Weitere Kostenlose Bücher