065 - Der Geisterreiter
zweite Nacht zu verbringen. Holst du bitte den Wagen?“
„Gern“, erwiderte ich. „Außerdem habe ich Hunger.“
Ich verließ die Männer, sah das Aufflammen von Blitzlichtern und schüttelte mich. Aber die Gedanken an das, was vorgefallen war, ließen sich nicht so einfach verdrängen, und die Gefahr war noch gegenwärtig. Wir befanden uns, zwar gut geschützt, direkt im „Machtbereich“ des Fürsten Torras.
Langsam ging ich den ausgetretenen, staubigen Pfad entlang. Irgendwo außerhalb meines Blickfeldes unterhielten sich einige Männer und lachten. In der Ferne brummte der Motor eines Grenzschutzfahrzeugs. Meine Gedanken waren bei meinen Eltern, bei dem zerstörten Wagen, bei der Gefahr, der wir alle ausgesetzt waren, obwohl wir sie nicht sahen. Bei dem Überfallenen Fernsehteam und den Männern, die die Woffelsburg gestürmt und dort nur eine hastig geräumte Höhle gefunden hatten.
Hinter den Büschen sah ich das Rot des verstaubten Wagens. Wir hatten ihn hier stehengelassen, weil wir nicht die Spurensuche behindern wollten. Ich griff in die Tasche der Jeans, um den Schlüssel herauszufischen. Als ich das Geräusch hörte, war es schon zu spät.
Eine große, harte Hand legte sich auf meinen Mund. Mein Kopf wurde zurückgerissen. Ein Knie bohrte sich in meine Kniekehlen, und ich sackte zusammen.
Ich überwand meine Erstarrung und begann mich zu wehren.
Eine zweite Hand ergriff meinen Arm, drehte ihn herum und schob ihn flach über den Rücken nach oben.
„Du kommen. Wir dich brauchen!“ sagte eine Stimme. Ich konnte sie deutlich verstehen. Sie war dunkel und heiser, fast kehlig. Daß es sich um einen der beiden Hunnen handelte, überraschte mich nicht mehr, denn ich rechnete seit Tagen ständig damit, ihnen irgendwo zu begegnen. Aber jetzt erfüllte mich eine grauenhafte Angst vor diesen beiden Männern, die auf so unwirkliche Weise in mein Leben getreten waren.
„Nein!“ schrie ich zwischen den schmutzigen, nach Pferd, Ruß und Fett stinkenden Fingern hindurch. Der Druck der Hand und der erbarmungslose Griff um meinen Arm verstärkten sich. Ich wurde hochgehoben und weggetragen. Einen Augenblick lang sah ich das Metall des Hemdes und den ledernen, metallbeschlagenen Armschutz. Ein rasender, fast lautloser Lauf durch Büsche und zwischen Baumstämmen hindurch begann.
Der Mann trug mich ohne Mühe. Ich schlug mit dem freien Arm um mich und erreichte nur Stoff und Leder. Als ich mit den Fingerknöcheln hart gegen Metall traf, durchzuckte ein wütender Schmerz meinen Arm.
Wie wild strampelte ich mit den Füßen, aber alles, was ich damit ausrichten konnte, war, daß meine Haut von Ranken, Dornen und Nadeln zerschnitten wurde.
Nach etwa fünfzig Metern lockerte der Mann seinen Griff, aber er nahm die Hand nicht von meinem Mund. Ich drehte mühsam den Kopf und sah in sein Gesicht.
Ich erschrak ein drittes Mal.
Ein rundes, gelblichbraun gegerbtes Gesicht war über mir. Die weitauseinanderstehenden Augen des Mannes blitzten mich kurz an, dann irrte sein Blick ab und heftete sich auf den Weg. Er trug einen Helm mit ledernen Bändern, unter dem fettige, schwarze Haare hervor hingen. Sein Oberlippenbart setzte sich zu beiden Seiten des Mundes fort und baumelte bis über das Kinn. Er roch unbeschreiblich ekelhaft.
Viele kleine, verschorfte Schnitte bedeckten seine Wangen. Es sah aus, als habe er sich mit einem Stein rasiert.
Jetzt erkannte ich den Mann deutlich. Es war nicht der Fürst, sondern sein Hauptmann.
Etwa vier Minuten lang rannte der Hunne mit mir durch dichte Sträucher, deren Zweige peitschend zurückschnellten, dann befanden wir uns in einem kleinen Wäldchen. Ich hatte jetzt völlig die Orientierung verloren und verhielt mich still. Im Augenblick hatte ich keine Chance, zu entkommen.
Vor uns wieherte ein Pferd.
„Wir reiten. Feiern großes Fest. Mulatschak!“ sagte der Mann und lachte. Dieses Gelächter würde ich niemals wieder vergessen. Es wirkte auf eine eigenartige Weise unbeteiligt und dennoch höhnisch und grausam.
Er änderte plötzlich die Richtung und rannte auf das Pferd zu. Das Tier stand, hinter Büschen gut getarnt, an einen Baumstamm gebunden. Es war ein brauner Wallach. Der Hunne ließ mich auf den Boden herunter und drehte mich mit einem einzigen, schnellen Ruck herum. Er starrte mich an und musterte mich durchdringend vom Scheitel bis zu den Zehen.
„Du schreien, du sterben!“ sagte er und zog langsam einen langen, nadelspitz zugeschliffenen Dolch aus der
Weitere Kostenlose Bücher