065 - Der Geisterreiter
auf der ein Tierschädel stak, vermutlich ein Rehschädel, einige Jahre alt und von Ameisen abgenagt. An den gebleichten Knochen und einigen verschieden langen Querbalken flatterten Bänder. Ein gespenstischer Anblick, der im Licht der Scheinwerfer noch schauerlicher wirkte.
„Was bedeutet das?“ erkundigte ich mich, nicht besonders interessiert. Ich fühlte mich schwach und sehnte mich förmlich danach, endlich wieder in den Bereich unserer städtischen Straßenbeleuchtung zu kommen.
„Das ist der Platz, an dem die Hunnen Nahrungsmittel für den täglichen Bedarf vorgefunden haben.“
„Welche Nahrungsmittel?“
„Verschiedene Leute aus Stalberg und Sammerath haben tatsächlich Tribut entrichtet, wie die Hunnen es durch Christina gefordert hatten. Das beweist immerhin, daß sie an das Vorhandensein der Hunnen glauben! Die Polizei hat einen beachtlichen Vorrat gefunden – einen Querschnitt durch den Supermarkt!“
„Offensichtlich haben sie die Seife vergessen“, meinte ich. „Der Hauptmann stank bestialisch!“
Wie auf eine geheime Absprache hin vermieden wir es, über die Geschehnisse des heutigen Abends zu sprechen. Das Erlebnis war noch zu frisch, die Angst noch zu tief in mir. Vielleicht gelang es mir, in der Sicherheit und Ruhe meines Zimmers zu erzählen, welch schreckliche Minuten ich durchlebt hatte.
Schweigend fuhren wir weiter. Endlich tauchten die ersten Lichter von Stalberg auf. Es war wie eine Erlösung, als der Wagen, flankiert von den anderen beiden Fahrzeugen, vor dem Haus meiner Eltern hielt.
„Gut abschließen!“ rief uns einer der Polizisten zu. „Wir fahren ab und zu vorbei!“
„In Ordnung!“ rief Jürgen zurück und nahm meine Hand. Sekunden später fiel die Haustür hinter uns ins Schloß.
Endlich zu Hause, dachte ich, als wir die Diele betraten. Ruhe und Geborgenheit umfing uns. Eng aneinander geschmiegt blieben wir eine Weile stehen. Ganz langsam fand ich in die Wirklichkeit zurück, aber der Gedanke, was geschehen wäre, wenn ich nicht durch einen Zufall gerettet worden wäre, ließ mich noch nachträglich bis ins Innerste erbeben.
Jürgen wartete, bis ich mich wieder ein wenig beruhigt und mein Zittern aufgehört hatte. Er war weiß Gott kein Heldentyp, aber er hatte das richtige Gespür dafür, wie es in anderen Menschen aussah und verstand es, sich in sie hineinzudenken.
„Ist es noch immer so schlimm, Illemädchen?“ flüsterte er. „Gleich wird es dir wieder bessergehen – nach einem Bad – du stinkst nämlich ganz fürchterlich!“
„Ich habe furchtbare Angst gehabt!“ gestand ich. „Wie soll das nur weitergehen, Jürgen?“
Er streichelte mich zärtlich und sagte: „Sie werden die beiden Hunnenkrieger suchen und finden. Es kann nicht mehr lange dauern, Ille, denn schließlich sind Polizei und Grenzschutz in der Überzahl und mit Waffen ausgerüstet, denen auch der erfahrendste Kämpfer auf die Dauer nicht gewachsen ist. Am besten wird sein, du legst dich erst einmal in die Wanne. Ich werde inzwischen etwas Eßbares auftreiben und später fahren wir ins Krankenhaus.“
Ich nickte. Wie gut, daß Jürgen hier war und sich um mich kümmerte.
Inzwischen war es mir zur Selbstverständlichkeit geworden, ihn immer um mich zu haben, und der Gedanke, es könnte einmal anders sein, erschreckte mich. In drei Wochen liefen seine Semesterferien ab und ich kannte seine Pläne noch nicht. Bisher hatte er darüber geschwiegen.
Im Bad ließ ich heißes Wasser in die Wanne laufen und machte mir ein herrlich duftendes Schaumbad zurecht.
„Kann ich da drin servieren?“ rief Jürgen nach einer Weile.
„Gute Idee“, erwiderte ich. „Aber ich wünsche auch Tafelmusik!“
„Wird gemacht, gnädiges Fräulein!“
Ich lag in einem Berg von Schaum und genoß das Gefühl, unter zivilisierten Menschen leben zu dürfen und viele Annehmlichkeiten zu haben, denen ich bis heute keine besondere Bedeutung beigemessen hatte. Und ich entspannte mich, versuchte meine Ängste zu verdrängen, aber es wollte mir nicht recht gelingen. Irgendwo hatte sich ein Rest festgesetzt und ließ sich nicht vertreiben. Mir war, als hätte mich ein Zauber aus grauer Vorzeit berührt, den ich nicht abschütteln konnte, ohne das entsprechende Codewort zu wissen.
Jürgen kam mit dickbelegten Broten und einer Flasche Sekt. Aus Vaters Stereo-Anlage erklang Musik.
Ich lächelte – es war eine merkwürdige Situation.
„Du lachst ja schon wieder, Illemädchen“, sagte Jürgen.
„Ich
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