0659 - Die indische Rache
hielt. Die Lippen hoben sich kaum von der blassen Haut ab. Die Wangen der schwerkranken Frau waren eingefallen, unter den Augen lagen die Ränder wie Schatten.
Glenda schlief…
Genau das beruhigte Schwester Betty ungemein, denn sie hatte schon Patienten erlebt, die sich tatsächlich gesund geschlafen hatten. Hoffentlich gelang Glenda dies auch.
Mit den Fingerspitzen strich Schwester Betty über die Wange der Frau. Sie wunderte sich dabei über die Temperatur der Haut, denn diese fühlte sich weder kalt, warm, trocken noch feucht an. Sie war einfach neutral geblieben.
Trotz der Berührung zuckte Glenda nicht. Sie war von ihr nicht wahrgenommen worden.
»Werde wieder gesund, Mädchen«, flüsterte die Oberschwester. »Du bist noch zu jung zum Sterben…« Sie wollte sich aufrichten und herumdrehen, doch zu dieser Bewegung kam es nicht mehr, denn etwas Kaltes war über ihren Nacken hinweggestreift wie ein eisiger Finger bei einer kurzen Berührung.
Die Schwester erschrak! Andere hätten unter Umständen aufgeschrieen oder wären herumgefahren, das tat sie nicht. Sie blieb in ihrer Haltung stehen und wartete ab.
Etwas Irres kam ihr in den Sinn. Alle Welt hatte von dem Film »Ghost« gesprochen, wo ein Toter seine Freundin aus dem Jenseits beschützte, und so etwas Geisterhaftes war auch über die Haut ihres Nacken hinweggehuscht. Der Wind hatte es nicht sein können, es herrschte kein Durchzug im Raum. Das Fenster und die Tür waren geschlossen.
Und doch…
Sie atmete durch die Nase, als sie sich aufrichtete. Eine Gänsehaut war auf dem Körper zurückgeblieben, im Gesicht sogar noch verstärkt. Ihr Blut schien sich ebenfalls abgekühlt zu haben, so mußte sich Betty einen Ruck geben, um dorthin schauen zu können, wo sich der Türausschnitt in der Wand befand.
Da stand sie.
Regungslos, bleich wie ein Gespenst - die weiße Frau!
***
Schwester Betty hörte sich atmen und gleichzeitig keuchen. Plötzlich waren all die Spukgeschichten, die sie in ihrer Kindheit erzählt bekommen hatte, wahr geworden. Was sie in diesem Zimmer sah, war kein Mensch, obwohl das Wesen menschliche Umrisse besaß. Das war ein Geist, jemand, der feinstofflich durch Wände und Türen schreiten konnte, ohne daß er etwas an deren Materie veränderte.
Es gab also Geister!
Sie merkte nicht, daß sie ihren rechten Handballen gegen den Mund gepreßt hielt, Betty hatte nur Augen für diese unheimliche Erscheinung, die nicht länger an der Tür stehenblieb und quer durch das Krankenzimmer schritt.
War es ein Schreiten?
Nein, auf keinen Fall. Die Beine berührten den Boden nicht, zudem besaß das Wesen keine Füße, denn das Ende der Gestalt floß einfach aus wie eine Nebelwolke.
Der Geist kümmerte sich nicht um die Krankenschwester. Sie schrie nicht, sie fand sogar den Mut, ihn sehr genau anzuschauen. Weißes, langes Haar, eine weiße Gestalt, ein ebenfalls bleiches Gesicht, in dem sich zitternde Konturen abzeichneten wie Mund, Nase und Ohren. Aber auch Augen, und die waren deutlicher zu sehen. Sie erinnerten Betty an ein Zwischenstadium, als könnte sie sich nicht für eine Materialisation entscheiden, denn in diesen Ovalen glänzte ein wenig Farbe.
Etwas gelblich, auch gemischt mit einem leichten Rotton, sogar die Farbe Türkis schimmerte durch.
Befand sich diese Gestalt möglicherweise in einem Zwischenstadium? Wollte sie Mensch werden und konnte es nicht?
Jetzt hatte sie das Bett erreicht!
Betty durchschoß ein heißer Schreck. Sie wußte nicht, zu was diese Gestalt fähig war, doch ihr oblag die Sicherheit der Kranken, und dafür ging sie durchs Feuer.
Deshalb drehte sie sich auch um, als sie die Starre abgeschüttelt hatte, streckte ihren Arm aus und konnte den Geist berühren.
Ihre Hand stach in die Kälte. Eisiger, gefrorener Nebel oder ein dünnes, gekühltes Plasma, vielleicht auch Watte.
So jedenfalls kam es ihr vor. Sie schluckte hart. Plötzlich schoß ihr das Blut in den Kopf, dann zitterten die Finger, und sogar ihre Arme vibrierten.
Hastig trat sie einen Schritt zurück, besah sich ihre Hand, die sich nicht verändert hatte.
Der Geist aber ließ sich nicht stören. Die Schwester stöhnte auf, als er lautlos über das Krankenbett hinwegglitt und an der anderen Seite des Bettes stehenblieb.
Glenda Perkins merkte von all dem nichts. Wehrlos lag sie auf dem Rücken.
»Wer sind Sie?« Schwester Betty konnte nicht anders. Sie mußte das Wesen einfach ansprechen, obwohl sie im Prinzip davon ausging, daß sie keine
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