066 - Marionetten des Satans
so allein in dem Haus zu sein, jetzt, nachdem Sie Ihren Sohn fortgebracht haben? Gestern abend wirkten Sie ziemlich verstört.“
„Nein, nein …“
„Das Haus ist sehr abgelegen. Man kann es verstehen, wenn Sie sich ein wenig unbehaglich fühlen. Besonders die Nächte können unangenehm sein.“
Die Worte klangen wie eine beiläufig hingeworfene Bemerkung, aber Julie hörte trotzdem die Frage aus ihnen heraus. Sekundenlang war sie versucht, ihm alles zu erzählen – die schrecklichen Alpträume, die so sehr an ihren Nerven zerrten. Aber eine innere Stimme mahnte sie zur Vorsicht.
„Ich will zugeben“, sagte sie mit einem Lächeln, das unecht wirkte. „Ich fühlte mich gestern abend nicht so ganz wohl in meiner Haut. Aber das geht vorbei. Ich war nur übermüdet.“
Lou Davilla griff nach ihrer Hand.
„Sie werden oft noch viel müder sein, Julie. Also stellen Sie sich darauf ein. Unsere Aufführung soll das Tagesgespräch von New York werden. Aber Sie werden so mit Arbeit überhäuft sein, daß zum Grübeln nicht mehr viel Zeit bleibt.“
„Danke, Lou. Das wünsche ich mir sogar.“
Er machte eine Handbewegung, als wolle er ihr über das Haar streichen, wich dann aber zurück. Und Julie fühlte sich seltsam zu ihm hingezogen, sehnte sich nach der unterlassenen Liebkosung.
Die nächsten Tage waren von Arbeit ausgefüllt, die Nächte von unruhigem Schlaf. Julie wagte nicht, tief und fest einzuschlafen, aus Angst vor den Alpträumen.
Sie hatte sich längst in ihre Rolle eingelebt, fühlte, wie sie immer besser wurde. Unter Davillas intuitiver Leitung verschmolz sie immer mehr mit dem jungen Mädchen, dem unschuldigen Opfer, so daß sie bald nicht mehr Wirklichkeit und Spiel auseinanderzuhalten vermochte.
Sie war so von ihrer Arbeit gefangengenommen, daß sie dem Verschwinden Gargantuas keine besondere Beachtung schenkte, obwohl sie dies unter normalen Umständen sehr bedrückt hätte. So aber redete sie sich täglich ein, sie wolle morgen nach ihm sehen, und vergaß es dann doch immer wieder.
Sie war so in ihre Rolle versunken, daß es ihr Mühe machte, mit Bobby zu sprechen, obwohl sie ihn pflichtbewußt jeden Tag anrief. Wenn Mike sie um ein Rendezvous bat, lehnte sie jedesmal ab. Es schien ihr, als seien alle Menschen, die ihr in ihrem früheren Leben etwas bedeutet hatten, in weite Ferne gerückt.
Die Tage verliefen gleichförmig, Proben, Pausen, Gespräche mit Lou, wieder Proben. Mit den anderen Ensemblemitgliedern sprach sie selten, und wenn, dann nur über die Arbeit. Mit allen unterhielt sie sich darüber, nur nicht mit Kate. Die unausgesprochene Feindschaft lag noch immer zwischen ihnen, obwohl Julie versucht hatte, einen netteren Kontakt mit Kate herzustellen.
Lou mußte oft dazwischentreten und Kate auf ihren Platz verweisen, wenn er das auch feinfühliger tat als am ersten Tag. Er widmete sich Julie ganz besonders, arbeitete Nuancen mit ihr aus, wußte immer den richtigen Tonfall, und mehr und mehr fühlte sie sich zu ihm hingezogen, nicht nur wegen seiner Fähigkeiten als Regisseur. Und sie spürte, daß auch er sich über das Berufliche hinaus für sie interessierte. Er verriet sich nur selten, wenn er sanft ihre Schulter berührte, um ihr eine Bewegung zu verdeutlichen, oder ihre Hand nahm und sie über die Bühne führte. Und jedesmal spürte Julie, wie ein Zittern durch ihren Körper lief.
Es war seltsam. Zu Lou, dem Künstler, dem Mann, fühlte sie sich tagsüber hingezogen, und wenn dieselbe Gestalt in ihren Träumen erschien, reagierte sie mit Abscheu. Sie fühlte sich hin und her gerissen, und alles war von einer merkwürdigen Müdigkeit verschleiert, die sie von Tag zu Tag stärker befiel.
Noch etwas geschah, das ihr Kummer machte. Mitten in einer Szene vergaß sie plötzlich ihren Text. Beim erstenmal achtete sie nicht sonderlich darauf. Das konnte jedem Schauspieler passieren. Aber als es immer öfter passierte, wurde sie unruhig.
Lou war freundlich und hilfsbereit, flüsterte ihr die Worte zu. Trotzdem war es äußerst unangenehm, die verächtlichen Blicke der anderen zu spüren.
Es ist nur die Anspannung, weil ich in einem neuen Ensemble bin, versuchte sie sich zu beruhigen. Und ich war so lange nicht am Theater … Es wird schon besser werden.
Dann kam der dritte Alptraum.
Sie spürte die kühle Nachtluft auf der Haut, war festgebunden an das riesige Kreuz, die gemurmelten Gesänge, als sie durch den Garten getragen wurde, das
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