0660 - Gefangene der Zeit
Platz war ausgenutzt. Zwischen den Zelten standen riesige Halogenscheinwerfer, die die Landschaft in kaltes, weißes Licht tauchten. Bereits jetzt war das Lager überfüllt, und jeden Tag kamen neue Menschen hinzu, die teilweise Tausende von Kilometern durch Europa gezogen waren, um hier Schutz zu suchen. Einen Schutz, dachte Zamorra, den er nicht mehr lange gewähren konnte.
»Hörst du zu?« riß ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.
Zamorra drehte sich schuldbewußt um und kehrte zu dem Kartentisch zurück, an dem Gryf ap Llandrysgryf und Teri Rheken standen. Hinter den beiden Silbermond-Druiden zeigte ein großer Fernseher den amerikanischen Nachrichtensender CNN, der immer noch die verläßlichste Informationsquelle in diesem Krieg war.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich der Dämonenjäger. »Wo waren wir?«
Die goldhaarige Druidin seufzte. »Bei unserem üblichen Problem. Wie sichern wir das Lager effektiver gegen Überfälle? Die magische Absperrung wird immer wieder durchbrochen. Da muß uns doch was einfallen.«
Gryf zog nachdenklich an seiner Pfeife. »Wenn wir genug Leute hätten, könnten wir die Patrouillen verstärken.«
»Die Leute sind nicht unser Problem«, antwortete Teri. »Davon haben wir sogar zu viele. Es sind die Waffen, die uns fehlen. Seit Rob…«
Sie unterbrach sich. Es war besser, in Zamorras Gegenwart die Katastrophe von Florida nicht anzusprechen. »Nun ja, wir haben sie eben nicht«, sagte sie statt dessen.
Für einen Moment herrschte Stille im Besprechungsraum, während jeder in seinen Gedanken das Florida-Desaster noch einmal durchlebte. Schließlich brach Zamorra das Schweigen.
»Das haben wir doch schon hundertmal besprochen«, sagte er frustriert. »Und die Lage ändert sich dadurch auch nicht. Da unten sitzen dreißigtausend Leute, die von uns abhängig sind, und wir machen nichts anderes, als auf den nächsten Angriff zu warten. Das ist unser wahres Problem.«
Gryf schüttelte den Kopf. »Wenn du eine Alternative hast, sag sie uns, aber ich weiß nicht, welchen Plan wir noch nicht ausprobiert haben. Wir schützen diese Leute, mehr können wir nicht tun.«
»Und selbst damit sind wir schon überfordert«, stimmte Teri zu.
»Deshalb müssen wir den Spieß umdrehen«, forderte Zamorra mit plötzlicher Leidenschaft. »Wir warten nicht mehr darauf, daß die Hölle zu uns kommt und uns mit jedem Angriff weiter dezimiert. Wir kommen zur Hölle!«
Er sah seine beiden Freunde und Mitstreiter ernst an. »Wir gehen in die Hölle und töten Stygia.«
»Du bist verrückt«, sagte Gryf spontan.
»Du nimmst mir die Worte aus dem Mund«, ergänzte Teri. »Für den Fall, daß du es noch nicht gemerkt hast: Da draußen sind ganz viele von denen, hier drinnen sind ganz wenige von uns. Eine Konfrontation zwischen vielen und wenigen geht meistens zu Lasten der wenigen. Was in unserem Fall bedeutet, daß sie uns schneller umlegen werden, als du ›ups, blöd gelaufen‹ sagen kannst. Capice ?«
»Sie werden uns noch nicht einmal bemerken«, konterte Zamorra stur. »Das ist der Vorteil, den wenige gegenüber vielen haben: Man übersieht sie leicht.«
»Das funktioniert aber nicht«, entgegnete Gryf. »Du bedenkst nicht…«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.
»Was ist?« rief Zamorra ungeduldig.
Die Tür wurde geöffnet, und ein Lieutenant steckte den Kopf durch den Spalt.
»Entschuldigen Sie, Professor, aber wir dachten wir sollten Ihnen etwas zeigen.«
Der Soldat zog die Tür komplett auf.
Zamorra erstarrte.
***
Ted Ewigk war einfach an den Wachen vorbeimarschiert.
Niemand hatte versucht, ihn aufzuhalten, weil niemand ihn gesehen hatte. Mit dem Dhyarra-Kristall hatte der Reporter verhindert, daß seine Aura von jemand anderem wahrgenommen wurde, und dadurch wurde er praktisch unsichtbar. Nur anrempeln lassen durfte er sich nicht, denn der Trick täuschte nur das Auge. Etwas Ähnliches hatte er auch schon bei Zamorra erlebt, der diese Technik von einem tibetischen Mönch erlernt hatte und sie auch ohne Kristall anwenden konnte.
Der Reporter schlich die steinerne Treppe hoch, die ins Hauptgebäude des Châteaus hinaufführte. Mit ein wenig Glück konnte er den Wachen folgen, die Nicole gefangengenommen hatten. Er hoffte, daß er zumindest herausfand, wohin sie die Dämonenjägerin gebracht hatten. Vielleicht befand sich Fooly am gleichen Ort. Dann konnte er beide befreien und aus dieser merkwürdigen Zeitlinie entkommen.
Aber in welche andere Zeitlinie hinein? Es gab
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