0669 - Blackwood, der Geistermann
die Rückseite des Hauses »angeklatscht« worden war, damit der Besitzer noch mehr Mietzins kassieren konnte. Und der war auch so schon hoch genug.
Beide Elternteile mussten schuften, um die Scheißbude bezahlen zu können, aber so erging es allen Mietern, die in dem großen Backsteingebäude lebten, das mehr wie eine Fabrikhalle aussah. Die Straße war ebenso trist wie das Haus, überhaupt konnte man die gesamte Umgebung einfach vergessen.
Ihr Mantel war noch feucht, als Julia über den Gehsteig ging. Sie hielt den Kopf gesenkt. Mit ihren Gedanken war sie woanders, musste aber gleichzeitig auf Löcher im Pflaster Acht geben, denn Jugendliche machten sich einen Spaß daraus, es aufzureißen, um sich anschließend mit den Steinen bewerfen zu können.
Vor der Haustür, die nie mehr richtig schließen würde, hing Gerry, der Altrocker. Er war schon vierzig, sprach von den alten Zeiten und soff sagenhaft viel Bier. Wenn er kein Geld mehr hatte, nahm er Gelegenheitsjobs an. Oft genug wusch er Leichen.
Als er Julia sah, verzog sich das stoppelbärtige Gesicht zu einem Grinsen. »Na, was sehe ich denn da?«
Julia blieb stehen, weil er breitbeinig auf der Stufe stand. Sie war ein Mädchen, das wegen ihres großen Busens schon als Dreizehnjährige Aufsehen erregt hatte, was später natürlich nicht weniger geworden war.
»Hau ab, Gerry!«
»Aber mit dir!«
»Verschwinde!«
»Irrtum.« Er schüttelte den Kopf. Dabei trank er Bier aus der Dose. Julia kannte ihn. Dieser Kerl würde nicht locker lassen. An körperlicher Kraft war er ihr zudem überlegen. Sie war aber schneller und rammte ihre Faust dorthin, wo es einem Mann extrem weh tut.
Der Altrocker brach zusammen, verschluckte sich dabei, heulte und hustete zugleich.
Wie ein nasser Sack hing er in der Türnische. Julia huschte rasch an ihm vorbei. In den nächsten Wochen durfte sie ihm nicht über den Weg laufen, denn Rücksicht kannte Gerry nicht. Wer hier in der Gegend überleben wollte, der musste hart sein.
Sie lief in den düsteren Flur, in dem es immer stank, und hetzte die Stufen der schmutzigen Treppe hoch, um in die vierte Etage zu gelangen, wo die Familie Dandring wohnte.
In einem Anfall von Renovierungswahn hatte ihr Vater die Wohnungstür mal rostrot gestrichen.
Jetzt war der größte Teil der Farbe abgeblättert. Nur noch Reste hingen dort.
Einen Schlüssel trug sie in der Manteltasche. Sie schloss auf und hörte aus der großen Küche das Schnarchen. Es übertönte noch die Geräusche aus dem Radio.
Nicht ihr Vater hockte am Tisch und schlief, es war ihre Mutter, die den Kopf auf die angewinkelten Arme gelegt hatte. Sonst war keiner zu Hause. Ihr Vater strich im Hafen Container an, die beiden Brüder waren sowieso aus dem Haus. Das heißt, einer saß im Knast. Nach dem zwanzigsten Einbruch hatten ihn die Bullen erwischt.
In der Küche stank es nach Bratfisch. Der alte Ofen war fast kalt, doch das kümmerte Julia nicht.
Sie brauchte einen Schluck und wusste auch, wo die Flasche stand.
Gin tranken sie zumeist. Nur bei besonderen Gelegenheiten holte die Mutter dann eine Flasche Whisky aus dem Versteck.
Auf ein Glas verzichtete Julia. Sie ließ den Gin aus der Flasche in die Kehle gluckern, drehte den Verschluss zu und stellte sie wieder weg. Ihre Mutter am Tisch bewegte sich, ohne wach zu werden.
Sie legte den Kopf mehr zur Seite und schlief weiter.
Früher hatte sich Julia das Zimmer mit den beiden Brüdern teilen müssen, jetzt gehörte es ihr. Sie hatte die Wände mit schwarzer Latexfarbe streichen wollen, was ihrem Vater nicht gefiel. Er hatte die Farbe kurzerhand aus dem Fenster gekippt. Noch heute bildete sie auf dem schmutzigen Hinterhof eine schwarze Pfütze.
Auf dem flachen Bett lag eine Kassette.
Das fiel ihr bereits beim Eintreten auf, und sie wusste auch, dass es eine neue Kassette war.
Plötzlich leuchteten ihre Augen. Sehr behutsam schloss sie die Tür, holte unter dem Bett ihr Radio hervor, dem ein Recorder angeschlossen war, und legte die Kassette ein.
Noch ließ sie das Ding nicht laufen, sie wollte sich erst beruhigen. Julia wusste, dass der Mentor ihr eine Nachricht hinterlassen hatte. Er war hier in ihrem Zimmer gewesen, und der Gedanke daran trieb eine Gänsehaut über ihren Rücken.
Mit dem rechten Zeigefinger drückte sie auf die Taste. Die Kassette lief an.
Zunächst war nichts zu hören, bis auf ein geheimnisvolles Rauschen, durch das Musikklänge schwebten, die sich steigerten und das Rauschen schließlich
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