0669 - Blackwood, der Geistermann
vor. Vom Ende der Feuerleiter bis zum Dach klaffte eine Lücke von etwa einer halben Körperlänge, die das Mädchen überwinden musste.
Auch das schaffte Julia leicht und locker. Dann hatte sie endlich das Dach erreicht. Der Anbau lag hinter ihr, und sie lief geduckt die Schräge bis zum First hoch.
Es war nicht sehr steil. Trotz der Nässe konnte sie noch laufen. Aber es lag Schnee, und der war an einigen Stellen gefroren, sodass sich Eisflächen gebildet hatten.
Sie stieg darüber hinweg und blieb auf dem First für einen Moment sitzen.
Der Himmel über London zeigte erste Auflockerungen. Das Schneefeld war weitergezogen. In den blanken Stellen zwischen dem dichten Grau schimmerte das Sonnenlicht.
Es würde eine sehr klare und auch verdammt kalte Nacht werden. Doch das interessierte Julia nicht mehr. Bis die Nacht einbrach, war sie längst in einer anderen Welt und konnte glücklich sein.
Sie wollte bis zum Dachrand vorgehen, musste allerdings auf Händen und Füßen kriechen, weil der Schnee die Pfannen in eine Rutschbahn verwandelt hatte.
Da passierte es, sie geriet ins Rutschen, schnitt sich an harten Eiskanten die Haut an den Händen ein und lachte darüber, als sie das eigene Blut sah, das rote Streifen hinterlassen hatte.
Julias Gesicht war verzerrt, doch nicht von der Anstrengung. Sie dachte an die Zukunft, an den Mentor, an den Teufel und natürlich an die Hölle.
Die Dachkante hatte eine Rinne. Sie war an einigen Stellen zerstört und nicht mehr überbrückt worden. Das im Sommer grüne, aus der Rinne hervorquellende Unkraut sah zu dieser Jahreszeit braun aus.
Vor der Rinne gelang es ihr, die Schussfahrt zu stoppen.
Sie hätte sich über die Dachkante rollen können, das allerdings wollte sie nicht.
Springen und dabei hoch aufgerichtet in die Hölle hineinfallen, so hatte es ihr die Stimme des Mentors gesagt.
Zudem stand ihr das Glück zur Seite. Durch den Wind war ein Teil des Schnees verweht worden und lag nicht an der Stelle, die sich Julia ausgesucht hatte.
Sie richtete sich auf, verlagerte das Gewicht nach hinten. Mit den Hacken stemmte sie sich gegen die Pfannen, rutschte etwas nach vorn und konnte in die Straßenschlucht hinunterschauen, wo sie zwei Personen sah, die sie kannte.
Plötzlich brach es aus ihr hervor. Sie konnte nicht anders, sie musste einfach lachen und schickte ihr Gelächter als höhnisches Triumphsignal in die Straßenschlucht…
***
Wir waren einfach der Reihe nach vorgegangen und hatten uns auf den ersten Namen im Tagebuch konzentriert.
Julia Dandring!
»Und wo wohnt sie?«, fragte Jane.
Ich kickte den Blinkhebel hinunter. »In einer Gegend, die nicht zu den Besten gehört.«
»Eastend?«
»Weiter nördlich.«
»Auch nicht besser.«
»Leider, aber nicht Schuld der Menschen.«
Jane hob die Augenbrauen. »Das habe ich auch nicht gesagt, mein alter Freund.«
Zwischen den alten Docks und südlich von Whitechapel lag die Grace Street. Ein reines Wohngebiet mit alten, mietskasernenartigen Häusern, in denen noch der Muff der Jahrzehnte steckte.
Niemand hatte an den Fassaden etwas getan, und auch die hier lebenden Mieter sahen nicht ein, dass sie selbst renovieren sollten. So ließen die Besitzer die Häuser vergammeln, denn selbst Ställe bekamen sie los, da in London Wohnungsnot herrschte.
Wir erreichten die Grace Street, in die auch im Sommer kaum Sonne hineinfallen würde.
Alte Häuser, ein paar Geschäfte, die aussahen, als würden sie am nächsten Tag schließen, Schnee an den Straßenrändern und verdammtes Eis auf den Gehsteigen.
Auch bei diesem Wetter hatten sich nicht alle Bewohner in die Häuser zurückgezogen. Die Menschen hockten auf den Treppen, standen an den Hauswänden oder hatten sich zurück in die beiden miesen Kneipen gezogen, an denen wir vorbeirollten.
Das Haus, in dem wir Julia zu finden hofften, war einfach nicht zu übersehen. Als breites, hohes, hallenartiges Bauwerk stand es an der rechten Straßenseite wie ein Klotz.
»Da musst du halten.«
Ich ließ den Wagen an den Straßenrand rollen. Obwohl mein Rover beileibe kein Jaguar war, bekamen einige Typen Glotzaugen. Sie sahen aus, als wollen sie mir das Fahrzeug jeden Augenblick unter dem Hintern auseinander nehmen.
Ich stieg aus in die Kälte. Auch Jane verließ den Wagen. Eine komische Gestalt, eingepackt in schmutziggrünes Leder, die fettigen Haare nach hinten gekämmt, löste sich aus einem Hauseingang und kam auf Jane Collins zu. Der Kerl ging breitbeinig, als hätte er
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